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Soziale Bewegungen in der Landwirtschaft: Der Malser Weg

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Soziale Bewegungen in der Landwirtschaft: Der Malser Weg
Foto: Christof Stache, Fotograf des Umweltinstituts München - Christof Stache

Immer wieder lesen wir in den Nachrichten von sozialen Bewegungen, die sich mittels Demonstrationen und Protesten für Klimagerechtigkeit, Demokratie, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und vieles mehr einsetzen. Der ein oder die andere von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ist vielleicht selbst schon einmal aktiv geworden, hat Plakate gemalt, Unterschriften gesammelt oder bestimmte Produkte boykottiert.

Auch im Bereich von Landwirtschaft und Ernährung sind soziale Bewegungen aktiv, Bauernbewegungen gehörten sogar zu den Vorläufern und Protagonisten der modernen sozialen Bewegungen, die heute charakteristisch für demokratische Staaten sind. In Südtirol entstand 2010 die soziale Bewegung „Der Malser Weg“, die sich für eine nachhaltige Landnutzung im Obervinschgau einsetzt. Sie hat vor allem mit dem Malser Referendum über das Verbot von chemisch-synthetischen Pestiziden im Jahr 2014 polarisiert. Viele SüdtirolerInnen unterstützen die Initiative, viele fragten sich jedoch auch, ob es wirklich solch radikale Maßnahmen braucht? Sollten die Menschen, die mehr Umweltschutz wollen, nicht einfach ökologische Produkte einkaufen, anstatt auf die Straße zu gehen? In diesem Beitrag möchte ich zeigen, welche gesellschaftliche Funktion soziale Bewegungen für die Entwicklung von Landwirtschaft und Ernährung haben.

Was sind soziale Bewegungen?

Soziale Bewegungen sind Instrumente, die es BürgerInnen ermöglichen, ihre Interessen politisch zu vertreten, wenn sie das Gefühl haben, dass diese missachtet werden. Genauer definiert der Aktivist und Bewegungsforscher Bill Moyer soziale Bewegungen als „kollektive Handlungen, die die Aufmerksamkeit der breiten Masse der Bevölkerung wecken. Sie sensibilisieren, bilden und mobilisieren Bürgerinnen und Bürger häufig über Jahre und Dekaden, um machtvolle Eliten und die ganze Gesellschaft aufzufordern ein soziales Problem oder einen Missstand zu beheben und fundamentale gesellschaftliche Werte wiederherzustellen“ (Moyer 2001, übersetzt von CH). Die Bewegung „Der Malser Weg“ entstand als Reaktion auf einen beginnenden Agrarstrukturwandel von Grünlandwirtschaft hin zu intensivem Obstbau, der mit einem erhöhten Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden einhergeht. Nach dem Bau der ersten Obstwiesen litten Biobetriebe unter der Abdrift von Pestiziden und AnwohnerInnen sorgten sich um die Gesundheit von Menschen und Umwelt sowie um den ästhetischen Wandel der Kulturlandschaft. Da Gespräche mit den bäuerlichen Organisationen und der Landesregierung nicht zu zufriedenstellenden Lösungen für das Problem der Pestizidabdrift führten, schlossen sich BioproduzentInnen und KonsumentInnen in Bürgerinitiativen zusammen. Ihr Ziel war es, die Landnutzung im Obervinschgau mitzubestimmen, um ihr Interesse an einer gesunden Umwelt, einer offenen Kulturlandschaft und dem Wohlergehen der biologischen Betriebe durchsetzen zu können (Holtkamp, Staffler 2019).

Ihr Ziel war es, die Landnutzung im Obervinschgau mitzubestimmen, um ihr Interesse an einer gesunden Umwelt, einer offenen Kulturlandschaft und dem Wohlergehen der biologischen Betriebe durchsetzen zu können

(Holtkamp, Staffler 2019)

Machtverteilung im Agrar- und Ernährungssystem

Gesamtgesellschaftlich betrachtet, geht es bei fast allen sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren darum eine Gegenmacht zur neoliberalen Entwicklung aufzubauen. Was bedeutet dies? Generell werden gesellschaftliche Entwicklungen wie die im Agrar- und Ernährungssystem von drei großen Kräften geformt: Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Mit der Globalisierung veränderte sich das Verhältnis dieser Kräfte zugunsten der Marktakteure. Zuvor haben vor allem staatliche Akteure wie die EU oder die Nationalstaaten mittels Marktregulationen und Subventionen bestimmt, wie und in welchem Umfang landwirtschaftliche Betriebe wie produzieren. Zunehmend überließ der Staat die Gestaltung des Agrar- und Ernährungssystems den Spielregeln des „freien Marktes“. Staatliche Produktpreisstützen und Einfuhrzölle wurden aufgehoben und durch einzelbetriebliche Förderungen ersetzt, um Konkurrenz zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben weltweit anzukurbeln. Darüber hinaus wird die Höhe der Erzeugerpreise und die Produktionsbedingungen zunehmend durch internationale Supermarktketten, global agierende Agrarkonzerne und die Börse bestimmt. Die Zivilgesellschaft, d.h. klein- und mittelständische Betriebe und KonsumentInnen, müssen sich anpassen. Durch soziale Bewegung können sie jedoch versuchen ihren Interessen Gewicht zu verschaffen (Renting et al 2012).

Warum braucht es eine Gegenmacht?

Eine landwirtschaftliche Produktionsweise, die am globalen Markt konkurrieren kann, sichert der europäischen Landwirtschaft Marktanteile, sie hat jedoch auch verschiedene negative soziale und ökologische Folgen. Die Orientierung am Profit führte dazu, dass sich ein Großteil der landwirtschaftlichen Betriebe stark spezialisierte, ihre Wirtschaftsweise durch den Einsatz großer Maschinen, synthetischer Dünger und Pestizide intensivierten und ihre Flächen expandierten. Augenscheinlich sind Bauernsterben und Monokulturen die Folge. Weniger sichtbar ist, dass sich z.B. in Frankreich jeden zweiten Tag ein Landwirt das Leben nimmt und die Landwirtschaft Hauptverursacher für diverse ökologische Probleme wie beispielsweise einem übermäßigen Eintrag von Phosphor und Stickstoff in die natürliche Umwelt ist (Meier 2017). Südtirol hat es mit dem Modell der Obstgenossenschaften geschafft, eine konkurrenzfähige Branche aufzubauen und dabei kleinteilige Betriebsstruktur zu erhalten. Dies ist ein riesiger Erfolg.

Südtirol hat es mit dem Modell der Obstgenossenschaften geschafft, eine konkurrenzfähige Branche aufzubauen und dabei kleinteilige Betriebsstruktur zu erhalten. Dies ist ein riesiger Erfolg.

Es ist nachvollziehbar, dass Kleinbäuerinnen und -bauern im Obervinschgau nun auf diesen Zug aufspringen wollen. Angesichts der globalen Nachhaltigkeitskrise muss die Gesellschaft jedoch Wege finden, wie Landwirtschaft und Ernährung auch langfristig zukunftsfähig bleiben kann. Dabei stellt sich auch die Frage, ob eine Landwirtschaft weiter gefördert werden kann, die nur funktioniert, wenn chemisch-synthetische Pestizide und Dünger den Ertrag erhalten. In diesem Kontext ist es ein großer Beitrag des Malser Weges einen Diskurs zu diesem Thema angestoßen zu haben. Darüber hinaus präsentiert die Bewegung jedoch auch konkrete Handlungsoptionen und schlägt Änderungen der demokratischen Strukturen vor, die es der Zivilgesellschaft ermöglicht mehr Mitspracherechte zu haben.

Strategie sozialer Bewegungen

Die Strategie sozialer Bewegungen ist es, gesellschaftliche Probleme aufzudecken, sie bekannt zu machen, Lösungen zu entwerfen und möglichst viele Menschen für ihre Ziele zu mobilisieren, damit PolitikerInnen sowie Unternehmen schließlich einlenken müssen. Der Lebenszyklus einer Bewegung ereignet sich zumeist in vier Phasen: Zunächst entsteht das Problem, daraufhin bildet sich Protest, es folgen häufig eine Krise und die Suche nach neuen Lösungen, und schließlich beginnt eine lange Zeit der Transformation. Dieser Ablauf zeigt, dass der Weg sozialer Bewegungen lang und voller Hürden ist (Moyer 2001).

Ablauf des Malser Weges

In der ersten Phase des Malser Weges machten die ersten AktivistInnen schon darauf aufmerksam, dass mit dem Bau einer neuen Bewässerungsanlage auch der Obstbau auf die südliche Malser Haide einziehen könnte. Sie fanden jedoch kaum Gehör. Nachdem die Bewässerungsanlage gebaut war, kauften Obstbetriebe aus dem unteren Vinschgau Land auf der Malser Haide. Damit stiegen nicht nur der Einsatz von Pestiziden sondern auch die Landpreise rasant, sodass sich weniger zahlungskräftige, lokale Viehbetriebe überlegen mussten, wie sie auf kleinerer Fläche mehr Ertrag erwirtschaften. Als Pestizidrückstände auf den Bioflächen der Viehbauern gefunden wurde, entstand Protest gegen diese Entwicklungen. Es bildeten sich Initiativgruppen, die 2014 das Referendum über ein Verbot chemisch-synthetischer Pestizide auf den Weg brachten. 74% der Malser EinwohnerInnen stimmten für das Verbot. Der Gemeinderat blockierte jedoch zunächst eine entsprechende Satzungsänderung. In der Not wurden die Malser AktivistInnen wieder kreativ und wählten bei der nächsten Wahl Gemeinderäte, die den Volksentscheid schließlich per Satzungsänderung und Durchführungsverordnung umsetzen. Seit 2018 sollte Mals daher eigentlich pestizidfrei sein, wären da nicht zahlreiche Klagen seitens Landesregierung und konventioneller Betriebe, die die Kompetenz der Gemeinde in Frage stellen, Pestizide zu verbieten, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Parallel zu den juristischen Prozessen, die inzwischen vor den höchsten Instanzen verhandelt werden, bemühen sich die Malser AktivistInnen lokale solidarische Wirtschaftskreisläufe aufzubauen. Diese sollen es den Kleinbetrieben im Obervinschgau ermöglichen, eine vielfältige kleinstrukturierte Landwirtschaft zu betreiben (Holtkamp 2020).

Ausblick

Vom Malser Weg lernen wir, dass soziale Bewegungen eine wichtige Aufgabe für die Entwicklung von Landwirtschaft und Ernährung erfüllen. Sie erlauben es BürgerInnen aktiv ihre Interessen in die Gestaltung des Agrar- und Ernährungssystems einzubringen. Sie decken ökologische und soziale Missstände auf, fordern politische Lösungen und experimentieren mit konkreten Handlungsalternativen. Viele Bewegungen erreichen ihr Ziel nie, sondern nur Teilziele oder sie geben in der Krisenphase auf. Der Malser Weg hat es jedoch bis in die Phase der Transformationen geschafft.

Der Malser Weg hat es jedoch bis in die Phase der Transformationen geschafft.

Diese Phase ist anstrengend, denn sie ist sehr lang und umkämpft. Außerdem fehlen öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen, die den AktivistInnen neue Motivation geben. In der Transformationsphase können die TeilnehmerInnen der Bewegung jedoch von ersten Erfolgen zehren. In Mals sind es viele kleine solidarische Initiativen wie die Genossenschaft Vinterra oder die Bürgergenossenschaft Obervinschgau, die eine andere Art der Wirtschaft aufzeigen. Darüber hinaus steigen die biologisch bewirtschafteten Nutzflächen in ganz Südtirol an. Mit der Landesregierung ist zudem schon seit längerem eine Bioregion Obervinschgau im Gespräch. Die Landkäufe auf der Malser Haide sind erst einmal zurückgegangen. Fraglich bleibt jedoch was geschieht, wenn es hinsichtlich der Frage, ob Pestizide in Zukunft wieder zugelassen werden können, Rechtssicherheit gibt?

Literatur:

Holtkamp, Carolin (2020): Der Malser Weg. Geschichte einer sozialen Bewegung für Demokratie und eine nachhaltige Regionalentwicklung. Unipress Kassel, Kassel.

Holtkamp, Carolin; Staffler, Jutta (2019): Ernährungssouveränität in Südtirol und die Rolle von Konsumentinnen und Konsumenten. In: Austrian Journal of Agricultural Economics and Rural Studies 29, S. 251-258.

Meier, Toni (2017): Planetary Boundaries of Agriculture and Nutrition – an Anthropocene Approach. (PDF; 1,1 MB). In: Proceedings of the Symposium on Communicating and Designing the Future of Food in the Anthropocene. Humboldt University Berlin, Bachmann Verlag.

Moyer, Bill (2001): Doing Democracy. The MAP Model for Organizing social Movement. New Society Publishers.

Renting, Henk; Schermer, Markus, Rossi, Adanella (2012): Building Food Democracy. Exploring Civic Food Networks and Newly Emerging Forms of Food Citizenship. In: International Journal of Sociology of Agriculture and Food 19 (3), S. 289-307.

Carolin Holtkamp

Carolin Holtkamp

Carolin Holtkamp schreibt Ihre Doktorarbeit im Bereich der Agrar- und Regionalsoziologie an der Universität Innsbruck und forscht seit 2014 zur Südtiroler Berglandwirtschaft. Wenn Sie nicht am Schreibtisch sitzt, arbeitet Sie gern im Garten oder streift durch die Berge.

Citation

https://doi.org/10.57708/b33333861
Holtkamp, C. Soziale Bewegungen in der Landwirtschaft: Der Malser Weg. https://doi.org/10.57708/B33333861

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