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Gerechte Verteilung in einer strukturell ungerechten Welt

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Gerechte Verteilung in einer strukturell ungerechten Welt
25 Doses - © Michaela Fischer

Die Welt stehe am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens, warnte der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus die Weltgemeinschaft im Januar in einer Rede vor dem WHO-Vorstand. Mehr als 39 Millionen Impfstoffdosen wurden bis dahin in mindestens 49 der einkommensstärksten Länder verabreicht. In einem Land mit niedrigstem Einkommen wurden dagegen gerade einmal 25 Dosen verabreicht. Nicht etwa 25 Millionen und auch nicht 25.000. Nur 25.

Einkommensstarke Länder, deren Einwohner:innen 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, haben sich mittlerweile 60 Prozent der zur Verfügung stehenden COVID-19-Impfstoffe gesichert. Einige Staaten haben sogar genügend Impfdosen bestellt, um ihre Bevölkerung mehrmals zu impfen, wie beispielsweise Kanada, das seine Einwohner:innen ganze fünf Mal immunisieren könnte. Die Impfstoffe von Pfizer/BioNTech gehen fast, jene von Moderna ausschließlich an einkommensstarke Länder. Selbst für den für einkommensschwächere Länder leichter zugänglichen Impfstoff AstraZeneca zahlen Staaten im globalen Süden einen höheren Preis als jene in der EU, wie der unlängst bekanntgewordene Fall aus Südafrika belegt. Jüngsten Recherchen des The Economist zufolge wird es den meisten Ländern im globalen Süden nicht gelingen, ihre Bevölkerung vor 2023 zu impfen.

Impfstoff-Nationalismus bedeutet, dass arme Länder zurückbleiben.© The Economist | Economist Intelligence Unit

Warum sollte uns das weiter bekümmern? Hat es doch der Zufall gut mit uns gemeint und uns unseren ersten Schrei in eine privilegierte Gesellschaft brüllen lassen, die alle impfbereiten Menschen voraussichtlich bis Ende 2021 geimpft haben wird. Aus glücksegalitaristischer Sicht liegt genau darin die Antwort. Moralisch willkürliche Faktoren wie Geburtsort, Hautfarbe oder Geschlecht dürfen keinen Einfluss auf die Lebenschancen und die Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen – oder Impfstoffe – haben. In eine nicht gänzlich, aber doch davon abweichende Kerbe schlagen structural injustice Perspektiven. Sie zielen darauf ab, die ungleiche soziale Positionierung unterschiedlicher Gruppen auf globaler und nationaler Ebene zu problematisieren. Sie hinterfragen historisch gewachsene Strukturen, Prozesse, Normen, Diskurse und Institutionen und weisen auf ihre Rolle in der Produktion und Reproduktion dieser Ungleichheiten hin. Unsere Welt ist strukturell höchst ungleich und geprägt von teils kolonialen Kontinuitäten.

Durch unsere globale Vernetzung, durch unzählige Prozesse, die Menschen in ungerechte soziale Positionen drängen und die wir durch unsere Handlungen auch unbewusst mittragen, entstehen letztlich duties of justice für alle.

Michaela Fischer

Von diesen duties of justice werden moralische Verpflichtungen abgeleitet und wir sind aufgefordert, diese Strukturen zu hinterfragen und dahingehend zu transformieren, dass der Kreislauf der Produktion und Reproduktion von struktureller Ungerechtigkeit unterbrochen wird. Dies ist – grob zusammengefasst – was die politische Philosophin Iris Marion Young das social connection model of responsibility nannte. Verantwortung, also, diejenigen strukturellen und institutionellen Faktoren zu transformieren, die der ungerechten Impfstoffverteilung zugrunde liegen ebenso wie jene Normen und Diskurse zu dekonstruieren, die sie legitimieren und normalisieren.

Eine Gefahr für die Weltwirtschaft

Die Frage, warum uns die ungerechte Impfstoffverteilung bekümmern sollte, lässt sich nicht nur aus ethischer Sicht, mit Verweis auf die universelle Menschenwürde oder das Bekenntnis zu Menschenrechten, wie das Recht auf Gesundheit, beantworten. Vielmehr braucht es auch den Blick auf epidemiologische, soziale und ökonomische Implikationen. Eine unlängst veröffentlichte Studie der Internationalen Handelskammer (ICC) verweist etwa auf die Risiken, die sich durch die ungleiche Verteilung des Impfstoffes für die Weltwirtschaft ergeben. Demnach könnten sich die Verluste auf bis zu 9.2 Billionen Dollar belaufen, wenn Regierungen es nicht schaffen, einen gerechten globalen Zugang zu Impfstoffen sicherzustellen. Der vorherrschende Impfnationalismus könnte also dazu führen, dass sich die ökonomische Situation auch einkommensstarker Länder nicht erholt, solange das Virus in weiten Teilen des globalen Südens weiterhin grassiert. Schaffen wir es nicht, allen Menschen Zugang zu den begehrten Impfstoffen zu ermöglichen, steigt die Gefahr neuer Mutationen, die möglicherweise resistent gegen den Impfstoff sein oder gar eine höhere Letalität aufweisen könnten. Diese Befürchtungen werden durch das zum globalen Virenreservoir gewordene Brasilien noch befeuert – ein Land, wo die Pandemie seit Monaten außer Kontrolle geraten ist und der Präsident Maskenträger:innen als “Weichlinge” bezeichnet. Die Folgen einer resistenten oder tödlicheren Variante von Sars-Cov-2 wären verheerend. Den Preis dafür zahlen noch mehr Menschen mit ihrem Leben und zerstörten Existenzen weltweit. Eine Studie der Northeastern University vergleicht zwei mögliche Szenarien der Impfstoffallokation und zeigt, dass ein kooperatives Modell, in dem Impfstoffe gerecht verteilt werden, fast doppelt so viele Todesfälle verhindern könnte als ein Szenario, in dem die Bevölkerungen einkommensstarker Länder zuerst geimpft werden.

Sand im Getriebe

Um letzteres Szenario zu verhindern, rief die WHO, gemeinsam mit den Impfstoffallianzen Gavi und Cepi, im April 2020 COVAX ins Leben. Die Initiative COVAX, deren Namen für “Covid-19 Vaccines Global Access” steht, sollte den Impfstoff gerecht verteilen und Ländern im globalen Süden einen Startvorteil im internationalen Wettlauf um die Vakzine ermöglichen. Die Betonung liegt auf sollte. Bis heute haben rund 20 Staaten noch kein einziges Fläschchen des flüssigen Virenbekämpfers erhalten. Trotz breiter internationaler Unterstützung und verheißener Kooperation fehlt es der Initiative an finanziellen Mitteln und verfügbaren Impfdosen, die nicht bereits von wohlhabenden Staaten aufgekauft wurden. Das gesetzte Ziel, bis Ende des Jahres 2021 mindestens 20 Prozent der Bevölkerung einkommensschwacher Länder zu impfen, rückt damit in weite Ferne. COVAX mag zwar einen guten Ansatz verfolgen, aber dennoch stellt sich die Frage, ob globale Impfstoffgerechtigkeit, die diesen Namen verdient, überhaupt mit einer auf Freiwilligkeit gestützten und an den guten Willen der Staaten und Pharmakonzerne appellierenden Charity-Initiative erreicht werden kann. Oder ob es vielmehr der Schaffung verbindlicherer Mechanismen und Verpflichtungen bedarf, die – um aus einer structural (in)justice Perspektive zu sprechen – einen Keil in das feingeölte Getriebe der Ungleichheitsproduktion und -reproduktion treiben.

Moderner Ablasshandel oder echte Solidarität?

Die vollmundigen Ankündigungen der EU und anderer Industriestaaten, zunächst gehortete, dann doch übriggebliebene Dosen zu spenden, kommen vielmehr einem modernen Ablasshandel als der vielgepriesenen globalen Solidarität gleich und reproduzieren und verfestigen asymmetrische Machtverhältnisse - frei nach dem Motto: wir teilen uns den Kuchen, ihr bekommt die Krümel (oder könnt sie uns günstig abkaufen).

Sich in den Samaritermantel zu hüllen und sich ein selbstgefälliges “Wir retten euch” auf die Fahnen zu schreiben, hat mit globaler Gerechtigkeit nichts zu tun und ist nichts weiter als in leere Worthülsen gekleidete Pseudosolidarität.

Michaela Fischer

Insbesondere in Anbetracht der verpassten Gelegenheit, mit einer zeitlich begrenzten Aussetzung des Schutzes für geistiges Eigentum für COVID-19-Impfstoffe und Medikamente auch konkrete Schritte zu setzen. Einen entsprechenden Vorschlag brachten Südafrika und Indien bei der WTO ein. Unterstützt wird er von 100 Staaten, verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International sowie von führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie Caroline Ncube, Joseph Stiglitz und Thomas Piketty. Eine zeitlich begrenzte Aussetzung des Schutzes geistigen Eigentums würde es anderen Staaten erlauben, schnell und günstig Impfstoffe zu produzieren und damit der Pandemie in absehbarer Zeit ein Ende zu setzen. Für alle, überall. Der Haken: der TRIPS waiver, wie der Vorschlag genannt wird, wird aktuell – wen wundert es – von eben jenen Staaten blockiert, die sich bereits über bilaterale Verträge mit genügend Impfdosen eingedeckt haben. Allen voran Kanada, die USA, Australien, die EU, Großbritannien und die Schweiz.

Eine Karte zeigt, welche Länder den Verzicht auf COVID-19-Patente unterstützen oder ablehnen.© KEI, TWN, WTO | Médecins Sans Frontières (MSF)

Mit der Zustimmung zur Aussetzung des Schutzes für geistiges Eigentum könnten einkommensstarke Staaten einem kleinen Teil dieser duties of justice, der Verantwortung, die sich aus globaler struktureller Ungerechtigkeit ergibt, nachkommen. Doch leider führt uns die Pandemie und die Debatte um globale Gerechtigkeit in der Impfstoffallokation einmal mehr sehr deutlich vor Augen, dass das Leben der einen eben doch mehr wiegt als das Leben der anderen.

Michaela Fischer

Michaela Fischer

Michaela Fischer hat Politikwissenschaften an den Universitäten Innsbruck, Warschau und Zürich studiert und ist Praktikantin am Center for Advanced Studies von Eurac Research. In ihrer bisherigen Forschung hat sie sich mit struktureller Ungerechtigkeit und Migration befasst. Mit den warmen Frühlingstemperaturen steigt ihre Vorfreude, endlich wieder in ihre Kletterschuhe schlüpfen zu können.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b29157511
Fischer, M. Gerechte Verteilung in einer strukturell ungerechten Welt. https://doi.org/10.57708/B29157511

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