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Täler des Schweigens

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Täler des Schweigens
Blick über Wolkenstein im GrödentalCredit: IDM Südtirol-Alto Adige/Alex Moling | Alex Moling | All rights reserved

Eine Reflexion darüber, wie sexualisierte Gewalt in Südtirol tabuisiert wird und wie schwer es für Menschen mit solchen Erfahrungen immer noch ist, darüber zu sprechen.

Ich sitze allein im Auto und fahre Richtung Bozen, genauer gesagt Richtung Gröden. Im Kofferraum befinden sich nicht nur ein Reisekoffer für zwei Nächte, sondern auch ein Auftrag und eine Mission. Diese lautet: Personen aus dem Grödental und dem Gadertal zu suchen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben und sich bereit erklären, an unserer Studie teilzunehmen.

Vorhaben des Forschungsprojekts ist es, 30 Teilnehmende aller drei Sprachgruppen, aller Geschlechter, verschiedenster Altersgruppen und sozialer Milieus aus Südtirol zu finden, die uns ihre Erfahrungen von sexualisierter Gewalt erzählen. Der Fokus der Studie liegt auf sexuellem Missbrauch im sozialen Umfeld. Wir wollen eine möglichst große Bandbreite an Fällen untersuchen und aktuelle ebenso wie weit zurückliegende Missbrauchsfälle in unterschiedlichen Settings, in denen der Missbrauch stattfand, berücksichtigen. Wir sehen die Betroffenen als Expert:innen, die wertvolle Einblicke in Entstehungsbedingungen sowie in Wege der Prävention und Aufarbeitung geben können. Die vom Land Südtirol, von der Sparkasse Südtirol und von der Universität Innsbruck finanzierte erste explorative Studie zu sexualisierter Gewalt in Südtirol ist im April 2023 mit mir, Laura Volgger und Gundula Ludwig vom Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck gestartet.

Zu Beginn war die Rekrutierung von Interviewteilnehmenden relativ „einfach“, weil wir auf bereits vorhandene Kontaktadressen zurückgreifen konnten, die uns der Filmemacher und Fotograf Georg Lembergh bereitstellte. Im Rahmen der Recherchearbeiten zum Buch „Wir brechen das Schweigen“ und dem Film „(K)einen Ton sagen – Missbrauch in Nord- und Südtirol“ kamen Lembergh und die Psychologin und Buchautorin Veronika Oberbichler zum Schluss, dass das Thema der sexualisierten Gewalt in Südtirol dringend einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufarbeitung bedarf. Der Grund ihrer Annahme war, dass sie aufgrund der geführten Interviews den subjektiven Eindruck gewannen, dass sowohl die Häufigkeit sexualisierter Gewalt als auch der Gewalt im sozialen Nahraum sowie der Umgang damit in Südtirol deutlich problematischer sein dürften als beispielsweise in Nordtirol oder in Österreich insgesamt.

Nicht nur Lembergh und Oberbichler, sondern auch wir Forschenden stellten bei unseren Recherchen und Interviews fest, dass das Thema in Südtirol – sei es in der Bevölkerung oder in der Politik – betretenes Schweigen und Ratlosigkeit auslöste. In dieser tabuisierenden, schambehafteten Atmosphäre fällt ein Coming-out, besonders schwer und nur wenige Betroffene wagen den Schritt, den Missbrauch zu melden oder über ihre Gewalterfahrung zu sprechen. Im Großteil des ländlich geprägten Südtirols sind Scham und die Angst vor sozialer Stigmatisierung nach wie vor groß und der Druck durch das soziale Umfeld sehr hoch. Zwar können diese Gründe nicht als sogenannte „Südtirol-Spezifik“ generalisiert werden, da es in Nordtirol oder anderen Ländern genauso oder ähnlich ist, dennoch kann festgehalten werden, dass diese Hinweise bezeichnend für die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Südtirol sind.

Julia Ganterer, Gundula Ludwig und Laura Volgger vom Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck
Credit: @michelleschmollgruberr | All rights reserved

Aus der Gewaltforschung wissen wir, dass Betroffene von Gewalt und Missbrauch oft aufgrund einer tief verankerten Angst vor ablehnenden Reaktionen, Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen durch das Umfeld und einem damit verbundenen Verlust von Zugehörigkeiten zur Familie und zu kirchlichen und weltlichen Gemeinden, über ihre Erlebnisse schweigen. Diese Schweigepraktiken, Ängste und Beschämung haben auch wir in den geführten Interviewgesprächen gespürt und gehört.

„Ich habe, als ich älter wurde, mich nicht einmal getraut, ich habe nie meinem Tata das ins Gesicht gesagt. Nie. Ich habe mich nicht getraut, ich habe, ich habe es nicht gekonnt. Habe es nicht gekonnt, ich habe ANGST gehabt, dass er sich dann vielleicht etwas antun könnte.“

Zitat einer Interviewperson der Studie

Diese wahrgenommenen Atmosphären des Schweigens grenzen Menschen in ihrem Sein ein und lassen sie verstummen. Gerade diese Praktiken des Schweigens, diese lautlosen Räume und bestehenden Atmosphäre des Verstummens begegneten mir, als ich durch das Grödental und Gadertal fuhr.

Für das ladinische Gebiet haben wir bereits zu Beginn der Studie im Sommer und Herbst 2023 Plakate und Flyer in den Sprachen Deutsch, Italienisch, Gherdëina und Badiot über die verschiedensten Kanäle verbreiten lassen. Wir haben Radio Gardena angeschrieben, ein Radiointerview geführt, Aufruf zur Teilnahme in den Kirchenblättern abdrucken lassen sowie Beiträge zur Studie in mehreren Südtiroler Zeitschriften veröffentlichen lassen. All diese Aktionen blieben ohne positive Resonanz – mit anderen Worten, es hat sich keine Person gemeldet, die bereit gewesen wäre, ein Interview mit uns zu führen. Obwohl wir auch darüber informierten, dass alle Interviews anonymisiert werden, es keine detaillierten Fragen zum Missbrauch geben wird und die Interviewperson frei entscheiden kann, wie viel sie uns erzählen möchte. Wir hatten auch immer Notfallnummern dabei und oft wurden die Interviews in Gewaltschutzzentren oder ähnlichen Einrichtungen geführt, damit wir professionell geschultes Personal als Backup hatten, falls es zu Retraumatisierungen oder Flashbacks kommen sollte.

Als Forschungsteam stellten wir uns folgende Fragen: Woran liegt es, dass wir Betroffene von sexualisierter Gewalt aus dem ladinischsprachigen Raum so schwer erreichen? Was, wer und/oder welche Umstände und Bedingungen hindern die Personen daran an der Studie teilzunehmen? Inwiefern erschweren die dort vorherrschenden sozialen Strukturen den Prozess der Aufarbeitung erlittener Gewalt im sozialen Nahraum? Und inwiefern begünstigen die geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen sexualisierte Gewalt?

Mit diesen Fragen und dem Forschungsauftrag im Gepäck fuhr ich also an einem strahlenden Septembertag von Meran ins Grödnertal. Am ersten Tag waren meine Stationen St. Ulrich, St. Christina und Wolkenstein, wo ich Plakate und Flyer in den verschiedenen Einrichtungen und Geschäften verteilte. Ich wählte Orte, Plätze und Lokalitäten aus, die Menschen in ihrem alltäglichen Leben aufsuchten; wo sie sich frei bewegen, ohne Furcht und ohne Scham. Daher verteilte ich die Flyer und Plakate in Altersheimen, Banken, Bibliotheken, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Gemeindehäusern, Supermärkten, Apotheken, Gaststätten, auf offenen Dorfplätzen und an Bushaltestellen. Ich führte Gespräche mit Leuten vom Rettungs- und Notfalldienst, von der Polizei und von Sozialdiensten, mit Apotheker:innen, Gemeindeangestellten und Gastwirt:innen.

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Das gleiche Prozedere erfolgte am zweiten Tag im Gadertal, wo ich von der Gemeinde Kolfuschg über Alta Badia, La Villa und Corvara bis nach St. Martin in Thurn alle möglichen Einrichtungen und Lokale aufsuchte, um Personen zu erreichen, die den Mut aufbringen an unserer Studie als Interviewperson teilzunehmen. Als ich am späten Nachmittag ins Hotelzimmer zurückkam, hatte ich das starke Bedürfnis, meine Eindrücke, Empfindungen und Wahrnehmungen in Worte zu fassen und darüber zu reflektieren. Aus meiner subjektiven Wahrnehmung aus betrachtet, kann ich zusammenfassend sagen, dass ich auf eine Bevölkerungsgruppe traf, die prinzipiell sehr offen und bereitwillig war, in ihren jeweiligen Einrichtungen, Lokalitäten und Geschäften die gedruckten Flyer und Plakate zur Interviewteilnahme auszulegen. Zu Beginn des Gesprächs waren die meisten eher zurückhaltend und distanziert, nach der Vorstellung der Studie, in der ich auch die Relevanz, das Motiv und die Forschungsziele erläuterte, reagierte der Großteil sehr wohlwollend und wertschätzend.

„Ich hoffe, dass es irgendwas verbessert. Ich will dir keinen Druck machen, aber ich denke mir, es muss vieles noch passieren, es muss viel aufgearbeitet werden und vor allem so entstigmatisiert werden, dass man darüber reden kann. Weil mir kommt vor, das kann man in der Gesellschaft noch nicht wirklich. Der Blick darauf ist immer noch so ein bisschen verbrückt und sollte vielleicht in eine andere Richtung gehen. Wo man sich nicht schämen muss.“

Zitat einer Interviewperson der Studie

Es kam jedoch zu keinen genaueren Nachfragen, weder zur Studie noch zu meiner Person. Ich traf eher auf Abwehrverhalten und Verneinung, wie zum Beispiel „Zum Glück kenne ich niemanden“ oder „Meine Kundschaft betrifft das nicht“. Aufgrund dieser und ähnlicher Aussagen, war mein subjektiver Eindruck, dass allgemein zu wenig Aufklärung und Wissen über das Phänomen sexualisierter Gewalt vorhanden ist. Insbesondere für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gibt es kaum Anlaufstellen und Räume, in denen sie sich über ihre Erfahrungen mit (sexualisierter) Gewalt austauschen können. Für das gesamte Gadertal gibt es nur ein Jugendzentrum und das liegt in St. Martin in Thurn. Für Jugendliche die beispielsweise in Kolfuschg wohnen, ist es aufgrund der Entfernung ungemein schwer, einfach mal soeben ins Jugendzentrum zu fahren, um sich mit Sozialarbeiter:innen oder Peers über die eigenen Erfahrungen mit Gewalt auszutauschen, sei es als Zeug:in, Täter:in oder Betroffene:r. Darüber hinaus gibt es im Gröden- und Gadertal nur wenige hausärztliche Praxen und Beratungsstellen für Familien und Jugendliche. Es gibt keine Anlaufstellen im Sinne von Gewaltschutzzentren, Frauen- oder Männerberatungen, mit der Ausnahme von St. Martin in Thurn. Einzelnen Gemeinden haben diesbezüglich lediglich Flyer mit Notrufnummern ausgelegt.

Im Gröden- und Gadertal zeichnete sich für mich ein sehr kleinstrukturiertes und tourismusorientiertes Bevölkerungsbild ab; das zunächst sehr offen, freundlich und wohlgesinnt erscheint, aber in einem zweiten Moment zurückhaltend, verschlossen und schweigsam. Im Vordergrund stehen der wirtschaftliche Tourismus, die sportlichen Leistungen und die künstlerischen Erfolge. Ich fand wenige Orte, wo es Raum und Zeit für den Austausch von persönlichen, individuellen Anliegen, Problemen, Ängsten usw. gibt. Im Gegenteil, eine Atmosphäre der Befangenheit, der Enge, des Schams und der Vertuschung überkam mich, als ich durch die zwei Täler des Schweigens fuhr. Umso wichtiger ist es, Schritt für Schritt die Tabuisierung aufzubrechen. Jeder einzelne Beitrag und jedes Interview, das wir führen konnten oder noch führen können, ist von großer Bedeutung.

Schließlich ist sexualisierte Gewalt ein gesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft.

Julia Ganterer

Julia Ganterer

Julia Ganterer ist Co-Projektleiter:in der ersten explorativen Studie zu sexualisierter Gewalt in Südtirol am Center für interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiter:in beim Verein bidok, wo sie für die Redaktion der barrierefreien digitalen Bibliothek zuständig ist. Wissenschaftlich beschäftig sich Julia Ganterer mit Themen der Gewalt(forschung) in Generationen- und Geschlechterverhältnissen, Behinderung und Inklusion, barrierefreier und geschlechtersensibler Sprache sowie Leib und Körper(modifikationen).

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