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Ernährungsdemokratie und Re-Territorialisierung der Ernährungssysteme

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Ernährungsdemokratie und Re-Territorialisierung der Ernährungssysteme
Ernährungsdemokratie - © Instagram/ackerschoen (https://www.instagram.com/p/BsJNjnTFVwI/)

Der Nyeleni–Kongress zur Ernährungssouveränität in Freiburg im Breisgau

Nyeleni, die Bewegung für Ernährungssouveränität, wird federführend organisiert von „La Via Campesina“, der weltweiten Organisation von Kleinbäuerinnen und –bauern die sich gemeinsam mit NGO‘s, Umweltschützern, KonsumentInnen und urbanen Bewegungen für die Gestaltung ihrer Agrar- und Lebensmittelsysteme einsetzen. Anfang Dezember 2018 fand in Freiburg im Breisgau (D) der erste internationale, deutschsprachige Nyeleni-Kongress für Ernährungssouveränität statt. In dieser engagierten Runde trafen sich Bauern und Konsumenten, Verarbeiter und Vermarkter, Vertreter unterschiedlicher Organisationen und Institutionen, sowie verschiedene deutschsprachige Wissenschaftler. So vielfältig die Teilnehmerrunde, so engagiert die Diskussionen. Und eines ist dabei von Anfang an klar: Das Thema Ernährungssouveränität betrifft und beschäftigt sie alle, jeden einzelnen mit seinem individuellen Zugang.

Doch was genau ist unter dem Begriff „Ernährungssouveränität“ zu verstehen?

„Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne.“ (Erklärung von Nyeleni, Mali, 2007)

 Forderung nach gemeinsamer Europäischer Lebensmittelpolitik

Hochkarätig besetzt ist schon die Auftaktveranstaltung mit dem Titel: „Essen.Macht.Glück – die Rolle von Ernährungssouveränität in der notwendigen gesellschaftlichen Transformation“. Der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, lässt keinen Zweifel daran, dass die Menschen wieder ins Zentrum der Ernährungspolitik gestellt werden müssen und nicht wie bisher die Interessen globaler Konzerne. „Dazu müsste eigentlich die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik zu einer Lebensmittelpolitik weiterentwickelt werden“, sagt Olivier de Schutter, der mit seiner neuen Experten-Gruppe IPES-Food genau daran arbeitet. Und er spricht als wichtigsten Schlüsselfaktor die Niedrigpreispolitik des Lebensmittelhandels an, die trotz aller sozialer, gesundheitlicher und ökologischer Kosten die Nahrungsmittelproduktion steigert und einer dringend notwendigen Ernährungsdemokratie im Weg steht. De Schutter betont die Wichtigkeit der Unterstützung lokaler und regionaler Initiativen zur Re-Territorialisierung und Re-Lokalisierung der Ernährungssysteme. Neue Organisationsformen der Lebensmittelversorgungsketten haben das Ziel, Erzeuger und Verbraucher wieder miteinander zu verbinden und die Agrar- und Lebensmittelproduktion zu verlagern. Dazu gehören unter anderem die von der Gesellschaft unterstützte Landwirtschaft, kurze Lieferketten, alternative Ernährungsnetzwerke, lokale Anbausysteme und Direktverkäufe.

Regionaler Konsum in Freiburg

Schon 2015 hat die Stadt Freiburg im Rahmen einer Studie den Anteil von Lebensmitteln regionalen Ursprungs am Gesamtverbrauch im Gebiet der Stadt Freiburg ermittelt. Aus der Studie ging hervor, dass die KonsumentInnen in Freiburg ihren Kalorienbedarf nur zu etwa 20% mit Produkten decken können, die im Regierungsbezirk Freiburg produziert werden. Eine komplette Versorgung aus der Region, dem Regierungsbezirk Freiburg, wäre auch bei einer besseren Ausschöpfung des Potentials regionaler Produkte nur bei einzelnen Produkten (z.B. Milch und Milchprodukte) möglich. Für eine weiterführende Diskussion zur regionalen Ernährung ist es wichtig zu klären, welche Ziele mit einer Erhöhung des Konsums regionaler Produkte verfolgt werden sollen. Aus Sicht der Nachhaltigkeit ist es beispielsweise nicht durchgehend so, dass regionale Produkte per se bessere Umweltbilanzen oder ein höheres Niveau an Tierwohl aufweisen, da die Produktionsweise eine ausschlaggebende Rolle spielt. (Fibl, 2015)

Initiativen in und um Freiburg

In Freiburg und seiner Umgebung gibt es eine nicht unwesentliche Anzahl an Initiativen, bei denen sowohl die Re-Territorialisierung als auch die Ernährungsdemokratie gelebte Realität sind:


Quelle: https://www.nonsprecare.it/orto-a-scuola-bambini-slow-food

Neben Direktvermarktern wie dem „Baldenwegerhof“ und „Michels-Kleinsthof“ gehören landwirtschaftliche Bildungsangebote wie der der „Lernbauernhof Kunzenhof“ oder die „GemüseAckerdemie“ fest dazu. Auf diesen wird für Schulklassen, Kitas und andere Gruppen durch naturnahe Erfahrungen die Verbindung zwischen Wissen, Erleben und Handeln mit dem Fokus auf Ernährung und Konsumverhalten geschaffen. Dadurch soll das Bewusstsein für die Bedeutung von Natur und der Wertschätzung von Lebensmitteln in unserer Gesellschaft gestärkt werden. Langjährige, erfolgreiche Beispiele für solidarische Landwirtschaft sind der „Lebensgarten Dreisamtal“ und die „Kooperative Garten Coop Freiburg“. Auf den beiden biologisch geführten Betrieben übernehmen Mitglieder mit ihren fixen monatlichen Beiträgen sämtliche anfallende Kosten. Im Gegenzug dazu können sie sich ihren wöchentlichen Ernteanteil, zum Großteil Gemüse, entweder direkt vom Acker oder bei Verteilstationen in der Stadt abholen. Die gemeinschaftsgetragene Landwirtschaft „Luzernenhof“ verfolgt das Ziel, landwirtschaftlich genutzte Flächen aus der Spekulation zu befreien. Die Bürgeraktiengesellschaft „RegionalwertAG“ hat als Ziel, unternehmerisch ökologisches Handeln mit regionalem Bezug, plurales Wirtschaftsverständnis in lokaler Überschaubarkeit und eine wirtschaftlich profitable Ernährungssouveränität der Bevölkerung in überschaubaren regionalen Wirtschaftsräumen umzusetzen.

Paradigmenwechsel in der Lebensmittelpolitik gefordert

Für die Kongressteilnehmer stellt sich nicht die Frage, ob die wachsende Weltbevölkerung mit intensiverer Landwirtschaft auf weniger Grund ernährt werden kann. Diese Mär wird von Seiten der industriellen Landwirtschaft sorgsam gepflegt, um weitere Abhängigkeiten zu schaffen und Initiativen für eine neue Ernährungspolitik möglichst im Keim zu ersticken. Die Stellschrauben für weniger Hunger in der Welt und einer gerechten und ausreichenden Lebensmittelversorgung und Verteilung für alle liegen ganz wo anders. Alle diese Einzelinitiativen zeigen verschieden Möglichkeiten auf. Es liegt an der Gesellschaft, einen Wandel von politischer Seite einzufordern und zu unterstützen. Nicht umsonst sind es auch heute weltweit die Kleinbauern, die 70% der Lebensmittelversorgung gewährleisten (www.FIAN.de).


Quelle: Pexels (https://www.pexels.com/de-de/foto/baby-kartoffeln-bauernhof-essen-farm-775707/)

Author: Jutta Staffler

References:

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Citation

https://doi.org/10.57708/b22008038
Staffler, J. Ernährungsdemokratie und Re-Territorialisierung der Ernährungssysteme. https://doi.org/10.57708/B22008038

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