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Schrumpfung statt Wachstum – ist Rückbau eine Strategie in der Regionalentwicklung

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Schrumpfung statt Wachstum – ist Rückbau eine Strategie in der Regionalentwicklung
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Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Schrumpfung oder Rückbau erscheint aus vielerlei Hinsicht relevant. Die Welt, wie wir sie kennen, ist im Umbruch. Lebens- und Arbeitsweisen sowie soziale Strukturen und das Konsumverhalten verändern sich, Märkte sind in Bewegung und die globalen Verflechtungen nehmen zu. Diese Dynamik zeigt, wie volatil das Gleichgewicht von Systemen und Strukturen geworden ist. Das auf dem Wettbewerb zwischen Menschen, Systemen und Organisationen aufbauende Wachstumsverständnis, das der Logik „Fortschritt bringt Wachstum bringt Wohlstand“ folgt, setzt eine gewisse Grenzenlosigkeit voraus, die u.a. in der Globalisierung und der Liberalisierung der Märkte ihren Ausdruck findet. Doch zeigt sich zunehmend, dass vor allem der Mensch sowie soziale und gesellschaftliche Strukturen mit dieser Grenzenlosigkeit nicht umgehen können. In diesem Kontext werden räumliche Schrumpfungsprozesse und der Rückbau von Strukturen und Systemen mögliche Alternativen oder gar notwendige Maßnahmen sein. Sie werden damit die Entwicklung von Räumen langfristig prägen.

Zahlreiche ländliche, periphere Regionen, Dörfer und Gemeinden sehen sich mit den Herausforderungen der Abwanderung konfrontiert. Vor allem die jungen, gut Ausgebildeten bewegen sich auf der Suche nach Arbeitsplätzen mit Entfaltungsmöglichkeiten in die urbanen Zentren. Zurück bleiben häufig nur die älteren Generationen und die geringer Qualifizierten. Diese Abwanderungsbewegungen führen in den ländlichen Gebieten daher zu Ungleichgewichten in der Sozial- und Altersstruktur. Dieser Bevölkerungsrückgang wird durch den demographischen Wandel verstärkt, der insgesamt die Altersstruktur der Gesellschaft verändert. Die weitere Entwicklung dieser Räume ist durch eine Abwärtsspirale gekennzeichnet: Die Abwanderung potentieller Fachkräfte führt zur Abwanderung der Unternehmen, was wiederum schwindende Steuereinnahmen bedeutet und den Handlungsspielraum für politische Akteure einschränkt. Die daraus resultierende wirtschaftliche Strukturschwäche führt zu Finanzengpässen und sinkenden öffentlichen Haushalten und gefährdet die Aufrechterhaltung sozialer Strukturen in ländlichen Räumen. Sozial und ökonomisch lebensfähige Gemeinden werden zu sterbenden Dörfern mit Leerständen und ungenutzten Flächen.

In touristischen Regionen kann verändertes Marktverhalten und damit einhergehendes zu spätes Erkennen und Reagieren der Akteure zu Schrumpfungsprozessen führen. Doch trotz dieser Schrumpfungsprozesse leben und wirtschaften weiterhin Menschen in diesen Regionen und Räumen, weshalb es umso mehr gilt Schrumpfung von Infrastrukturen, Systemen, Verwaltungseinheiten und ganzen Räumen konstruktiv zu gestalten und als strategische Ausrichtung wahrzunehmen. Dafür sollten alle möglichen Strategien und Handlungsoptionen – vom Rückbau defizitärer Strukturen bis zu temporären Zwischennutzungen von Immobilien und der Fusionierung von Einrichtungen, Gesellschaften oder Gemeinden – berücksichtigt werden.

Zeit zum Umdenken
Es ist fraglich, ob die Gestaltung und Steuerung derartiger Rückbau- und Schrumpfungsprozesse mit den wachstumsbasierten Instrumentarien begleitet werden können. Es bedarf eines Umdenkens, im Rahmen dessen eine Reflexion über das Verständnis und Verhältnis von Quantität und Qualität, von Sinn, Wert und den Erwartungen an ein lebenswertes Leben stattfinden sollte. Darüber hinaus ist über eine stärkere Differenzierung zwischen gesellschaftlich Erwünschtem, technisch Möglichem, ökologisch Verträglichem und ethisch Verantwortbarem nachzudenken. Initiativen dazu zeigen sich u.a. auf politischer Ebene. Im Rahmen der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ der Deutschen Bundesregierung wurde über Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt diskutiert. Mit der Frage „Wie wollen wir leben?“ wurden dabei die Voraussetzungen und qualitativen Anforderungen hinsichtlich eines „guten Lebens“ thematisiert. In Österreich hat das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft mit der Initiative „Wachstum im Wandel“ Organisationen, Unternehmen und Institutionen zusammengeführt, um Fragen zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität zu diskutieren und Möglichkeiten zu erarbeiten, um Wohlstand beizubehalten und gleichzeitig soziale und ökologische Fragen zu lösen.

Für die Gestaltung von Schrumpfungsprozessen bedeutet dies, durch neue partizipative Ansätze, die Aspekte wie Revitalisierung, Erneuerung, Reengineering, qualitative Entwicklung oder strategischen Wandel in den Vordergrund zu stellen und die Folgen und Auswirkungen von Schrumpfung und Rückbau anzugehen. Dabei wird es womöglich notwendig sein, bestehende politisch-administrative Grenzen zu überwinden, in größeren räumlichen Kontexten zu denken und Ausgleichsmechanismen für bestehende Ungleichgewichte zu entwickeln. Wie so oft bei Veränderungsprozessen werden auch Schrumpfungsprozesse in Regionen, Destinationen und Gemeinden Gewinner und Verlierer hervorbringen. Daher scheint es umso notwendiger, diese Entwicklung in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen und die Neuausrichtung in einem offenen Prozess und Dialog anzugehen. Auch in schrumpfenden Räumen sind wertschöpfungsrelevante Potentiale vorhanden, die durch innovative Ideen in Wert gesetzt werden können. Veränderungen können Chancen bringen, neue Perspektiven eröffnen und bisher ungenutzte Potentiale aufdecken. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenphänomene, der Umbrüche und Unsicherheiten zeigt sich zunehmend eine Sehnsucht der Menschen nach regionalen, überschaubaren Einheiten mit funktionierenden Netzwerken und sozialen Kollektiven. Könnte hier womöglich eine Chance für ländliche und periphere Räume liegen?

Autor: Elisa Innerhofer

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Citation

https://doi.org/10.57708/b22008486
Innerhofer, E. Schrumpfung statt Wachstum – ist Rückbau eine Strategie in der Regionalentwicklung. https://doi.org/10.57708/B22008486

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