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Mehrsprachigkeit

Südtirols alte und neue Sprachenvielfalt

by Valentina Bergonzi, Barbara Baumgartner

Die Sprachenvielfalt Südtirols, alte und neue, aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet: Was ist der Stand der Forschung? Wie sieht die Schulpraxis aus? Und der rechtliche Rahmen? Was haben wir von Mehrsprachigkeit und wie können wir ihre Möglichkeiten noch besser ausschöpfen?

Hier gibt es das Dossier Mehrsprachigkeit zum Download als PDF.

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Animation zur Mehrsprachigkeit in Südtirols Schulen

Mehrsprachigkeit in Südtirol

Bolzano, Bozen, Bulsan. Die drei offiziellen Namen von Südtirols Landeshauptstadt, aber auch Orts- und Firmenschilder zeigen auf den ersten Blick: Das Nebeneinander von Deutsch, Italienisch und Ladinisch ist ein grundlegendes Merkmal unserer Provinz. Wer aber die Ohren aufmacht, merkt bald, dass aus der traditionellen, institutionell verankerten Dreisprachigkeit längst eine neue Vielsprachigkeit geworden ist, und das nicht nur in den größten Ortschaften. In Straßen und Gassen, auf Schulhöfen und Spielplätzen kann man Sprachen wie Arabisch oder Albanisch hören, Spanisch, Punjabi, Französisch, Rumänisch, Farsi . . . – alle mitgebracht von Menschen, die Südtirol in den vergangenen Jahren zu ihrem Zuhause gemacht haben.

Doch nicht nur Migration, auch Tourismus, internationale Wirtschaftskontakte, Medien und Internet tragen dazu bei, dass immer mehr Menschen in ihrem alltäglichen Leben ganz selbstverständlich unterschiedliche Sprachen verwenden. Dieses Dossier will die sprachliche Vielfalt Südtirols, die alte und die neue, aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten: Es stellt den aktuellen Forschungsstand zur Mehrsprachigkeit dar und skizziert den rechtlichen Rahmen, fragt nach den Herausforderungen der Mehrsprachigkeit und zeigt die großen Chancen auf, die sie dem Einzelnen, aber auch der Gesellschaft insgesamt bietet.

Wie mehrsprachig ist Südtirol?

Etwa 70 Prozent der Südtiroler und Südtirolerinnen zählen sich zur deutschen Sprachgruppe, 25 Prozent zur italienischen und 5 zur ladinischen1. Da bei der Erhebung der Sprachgruppenzugehörigkeit nur die drei offiziellen Sprachgruppen zur Auswahl stehen und man sich zudem bloß einer der drei Sprachgruppen zuordnen darf, zeichnen die offiziellen Zahlen aber ein unzureichendes Bild der Sprachenvielfalt in Südtirol. Denn Südtirol spricht sehr viel mehr Sprachen als Italienisch, Deutsch und Ladinisch, unter anderem, weil Zugezogene ihre Herkunftssprachen natürlich weiterhin verwenden. Welche das sind, wird nicht erfasst; einen Hinweis geben jedoch die Statistiken zu den in Südtirol ansässigen ausländischen Staatsangehörigen.

Laut ASTAT-Daten2 war Albanien im Jahr 2018 das am stärksten vertretene Herkunftsland (etwa 5.800 Menschen), es folgen – nach Deutschland mit etwa 4.500 Menschen – Pakistan und Marokko (beide mit etwa 3.600). Dabei muss man bedenken, dass zum Beispiel in Pakistan mehr als 50 Sprachen gesprochen werden.3 Daher vermitteln auch die Herkunftsländer nur eine grobe Ahnung von der Sprachenvielfalt in Südtirol.

Wie vielfältig unsere sprachliche Wirklichkeit geworden ist, zeigt eindrucksvoll der Blick in die Schulen: In einer durchschnittlichen städtischen Mittelschulklasse, so die Erfahrung des Forschungsteams von Eurac Research aus zahlreichen Projekten, kann man heute leicht acht verschiedene Herkunftssprachen versammelt finden. Die aktuelle Sprachenvielfalt ist vor allem seit den 1990er-Jahren entstanden, als verstärkt Zuwanderung aus europäischen Nicht-EU-Ländern und Afrika einsetzte.4 Zwischen 2002 und 2017 hat sich die Zahl der in der Provinz ansässigen ausländischen Staatsangehörigen verdreifacht.5 Derzeit leben Menschen aus 138 Ländern in Südtirol.6

Wie mehrsprachig sind die Menschen in Südtirol?

Um darauf zu antworten, muss man zuerst den Begriff „Mehrsprachigkeit“ definieren, wobei es hier auch unter Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern verschiedene Sichtweisen gibt.

Der Europarat7 unterscheidet „Plurilingualismus“, verstanden als das individuelle, dynamische und sich entwickelnde sprachliche Repertoire des einzelnen Menschen, und „Multilingualismus“ als das Vorhandensein von mehr als einer Sprache in einer Gesellschaft.

Die Linguistik tendiert heute dazu, in das Konzept von Mehrsprachigkeit eine breite Palette von Sprachformen einzubeziehen, also nicht nur Sprachen im engeren Sinne, sondern auch Dialekte, Jargons, Varietäten oder die Fähigkeit, verschiedene Register zu benutzen. Denn einer Lehrperson gegenüber drückt man sich sicher ganz anders aus als beim WhatsApp-Chat mit Freundinnen und Freunden. Genaue Daten zu den Sprachkenntnissen in der Provinz gibt es nicht und wären auch schwierig zu erheben. Selbst die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung hat diesbezüglich wenig Aussagekraft: Wenn jemand sich der deutschen Sprachgruppe zugehörig erklärt, bedeutet dies ja nicht, dass er oder sie nicht auch Französisch oder Russisch spricht.

Sicherlich haben die institutionelle Mehrsprachigkeit, der Zustrom von Touristinnen und Touristen aus aller Welt sowie die geographische Grenzlage einen Einfluss darauf, welche Sprachen in Südtirol gesprochen werden. Für die individuelle Mehrsprachigkeit spielen zudem Faktoren wie Familie, Schule und Wohnort eine wichtige Rolle. Das Projekt „Sprachenvielfalt macht Schule/A lezione con più lingue“ von Eurac Research hat diesbezüglich einige interessante Daten hervorgebracht. Von den mehr als 2.500 Schülerinnen und Schülern aller drei Schulsysteme in Südtirol, die daran teilnahmen – von der zweiten Grundschul- bis zur Maturaklasse –, erklärte mehr als ein Drittel, neben dem Dialekt und den in der Schule unterrichteten Sprachen noch über Kompetenzen in mindestens einer anderen Sprache zu verfügen. Viel hängt davon ab, inwieweit die Lernenden die Möglichkeit haben, die Sprachen ihrer Sprachenrepertoires im Alltag anzuwenden. Je nachdem, wo in Südtirol man lebt, kann die Umgebung nämlich mehr- oder einsprachig sein: In vielen Tälern und Dörfern wird im Alltag nur Dialekt gesprochen, auf den Straßen ist – außer von Touristinnen und Touristen – weder Standarddeutsch noch Italienisch zu hören. Umgekehrt hört man in einigen Vierteln von Bozen nur selten Deutsch. Nicht zu vergessen ist aber, dass Internet und soziale Medien es uns heute praktisch überall ermöglichen, verschiedene Sprachen zu hören und zu verwenden.

Eine besondere Situation haben wir in den ladinischen Tälern, wo das Schulsystem auf die Beherrschung aller drei Landessprachen hin ausgerichtet ist und Englisch als Fremdsprache noch hinzukommt. Der Dialekt spielt für die deutschsprachigen Südtirolerinnen und Südtiroler eine wichtige Rolle: Er ist fast immer die erste Sprache, die sie lernen, bevor durch Medien und Schule Standarddeutsch hinzukommt. Die Verwendung von Dialekten zusätzlich zu Standardsprachen zählt ebenfalls zur individuellen Mehrsprachigkeit – man spricht hier auch von „innerer Mehrsprachigkeit“.8

Wie gut muss man eine andere Sprache beherrschen, um als mehrsprachig zu gelten?

Das kommt darauf an, was wir mit dieser Sprache tun wollen. Lernen wir sie nur für die Schule, mögen sie aber eigentlich nicht, dann werden wir nur gerade so viel lernen, dass wir keine schlechte Note bekommen. In Stellenausschreibungen finden sich nicht selten Formulierungen wie „Grundkenntnisse der englischen Sprache erforderlich“, ohne dass präzisiert würde, was mit Grundkenntnissen gemeint ist. Anders ist die Lage, wenn jemand das Übersetzen zum Beruf machen will oder aus beruflichen oder familiären Gründen in ein anderes Land zieht. In diesem Fall braucht man natürlich Sprachkenntnisse, die über einfache, alltägliche Formulierungen hinausgehen. Man kann eine Sprache aber auch einfach nur so lernen, weil man ihren Klang mag, weil es die Sprache des Ferienlandes ist oder weil der Freund oder die Freundin sie spricht. Je persönlicher die Motivation, umso mehr liegt uns daran, die Sprache besser zu lernen.

Als die deutsche Band Tokio Hotel auf dem Gipfel ihres Erfolgs stand, registrierte zum Beispiel das Goethe-Institut einen Anstieg der Anmeldungen zu Deutschkursen. In letzter Zeit hat sich in der Sprachforschung die Auffassung durchgesetzt, dass man eine Sprache nicht „perfekt“ beherrschen muss, um als sprachkompetent zu gelten. Tatsächlich machen Menschen auch in ihrer Erstsprache Fehler und müssen im Laufe ihres Lebens viele sprachliche Aspekte (Grammatik, Wortschatz usw.) erst lernen. Anders gesagt: Die „perfekte Sprachbeherrschung“ ist eigentlich ein Mythos,9 der leider häufig nicht anspornt, sondern hemmt – nämlich wenn er Menschen das Gefühl vermittelt, sie könnten eine Sprache vielleicht nicht gut genug, um sie zu verwenden. Aus Angst vor Fehlern zu verstummen, statt das eigene sprachliche Repertoire voll auszuschöpfen, um mit anderen ins Gespräch zu kommen, ist dabei jedoch der größte Fehler.

Wie ist die sprachliche Vielfalt Südtirols entstanden?

Tatsächlich war Südtirol nie ein sprachlich homogenes Gebiet. Wie der Sprachforscher Franz Lanthaler10 zeigte, kann man aus den in Südtirol gesprochenen deutschen Dialekten eine mindestens 1500 Jahre zurückreichende Geschichte der Sprachkontakte rekonstruieren. Die ältesten in der Gegend gefundenen Schriftspuren stammen von den Rätern, deren Siedlungsgebiet von Triest bis zum Bodensee reichte. Mit der Ankunft der Römer, die das Lateinische mitbrachten, starb die Sprache der Räter allmählich aus, doch blieben einige ihrer Elemente im Dolomitenladinischen sowie in eng verwandten Sprachen wie Friulanisch und Rätoromanisch erhalten. Ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. siedelten sich auch Bajuwaren aus dem Norden an: Seitdem ist das Sprachpanorama der Region durch das Nebeneinander von Germanisch (Deutsch und deutscher Dialekt) und Romanisch (Ladinisch, Italienisch, Trentiner Dialekt)11 geprägt.

Andreas Hofer zum Beispiel ging aus dem Passeiertal eine Zeitlang ins Trentino, um Italienisch zu lernen, denn als Wirt war es wichtig, diese Sprache zu beherrschen.12 Dokumente aus dem 18. Jahrhundert zeigen, dass der damalige Bozner Merkantilmagistrat – eine Art Vorläuferinstitution der Handelskammer – bereits zweisprachig funktionierte: Deutsche und italienische Beamte wechselten sich ab,einige beherrschten auch beide Sprachen. Heute ist Englisch die meistbenutzte Fremdsprache in den Schulen, gefolgt von Französisch und Spanisch. Die Verbreitung von Sprachen wie Chinesisch, Punjabi oder Albanisch geht auf die Migrationsbewegungen der frühen 1990er Jahre zurück.

Wie ist der Umgang mit der Sprachenvielfalt gesetzlich geregelt?

Was Italienisch, Deutsch und Ladinisch betrifft, oft auch „alte Mehrsprachigkeit“ genannt, ist Südtirol ein stark reglementierter Sprachraum; leitendes Prinzip ist der Minderheitenschutz. Der zentrale Gesetzestext ist das Autonomiestatut von 1972, das Deutsch und Italienisch als offizielle Landessprachen gleichstellt. Ladinisch ist in der Provinz Bozen als Minderheitensprache anerkannt und Amtssprache im Gadertal und in Gröden. So darf in allen Ämtern, vor Gericht, bei der Polizei und im Gesundheitswesen die deutsche oder die italienische Sprache verwendet werden. Für eine Anstellung im öffentlichen Dienst müssen die entsprechenden Sprachkenntnisse durch eine offizielle Zwei- bzw. Dreisprachigkeitsprüfung, ein anerkanntes Sprachzertifikat oder einen zweisprachigen Studientitel nachgewiesen werden. Landesgesetze müssen in beiden Sprachen verfasst sein. Demzufolge mussten und müssen nach wie vor deutsche Äquivalente für italienische Rechts- und Verwaltungsbegriffe erarbeitet werden13 – eine nicht einfache Aufgabe, bei der das Landesamt für Sprachangelegenheiten und die Sprach- und Rechtsexpertinnen von Eurac Research im Rahmen des Projekts „Wissenschaftlich-terminologische Beratung“ (ConsTerm) eng zusammenarbeiten.14

Was hat eine Gesellschaft von Mehrsprachigkeit?

Zunächst einmal: Mehrsprachigkeit ist weltweit der Normalfall. Auf der Erde gibt es knapp 200 Länder, in denen laut Ethnologue mehr als 7000 Sprachen gesprochen werden. Europa bildet dabei im Vergleich der Kontinente mit nur etwa 287 Sprachen das Schlusslicht.

Zum Vergleich: Allein im Inselstaat Papua-Neuguinea werden mehr als 800 Sprachen gesprochen (Abbildung 1). Mehrsprachige Gesellschaften sind genauso wie mehrsprachige Menschen also keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel.

Kulturell bedeutet Sprachenvielfalt zweifellos einen Reichtum, der jedoch zunehmend verloren geht: Bis zum Ende des Jahrhunderts werden jedes Jahr etwa 17 Sprachen aussterben, weil sie nicht mehr an die Kinder weitergegeben und von ihnen nicht mehr gesprochen werden.15 Damit geht auch das in diesen Sprachen enthaltene kulturelle Gedächtnis unwiederbringlich verloren.

Mit 24 Amtssprachen und etwa 60 weiteren offiziellen Regional- und Minderheitensprachen hat es sich die Europäische Union zur Aufgabe gemacht, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen in Europa zu schützen. So verbietet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich jegliche Diskriminierung auf Grund der Sprache.16

Aber auch wirtschaftlich profitieren Gesellschaften von Mehrsprachigkeit, vor allem im Zuge zunehmender Globalisierung. Fehlen in einem Unternehmen entsprechende sprachliche und interkulturelle Fähigkeiten, können ihm Aufträge entgehen und wirtschaftliche Nachteile entstehen (Abbildung 2). In Südtirol wird häufig die „Brückenfunktion“ zwischen dem deutsch- und italienischsprachigen Raum unterstrichen und der damit verbundene wirtschaftliche Wettbewerbsvorteil der Zweisprachigkeit. Fremdsprachenkenntnisse sind natürlich zudem im Tourismus sehr wichtig. Allerdings liegt der Fokus hier im Allgemeinen stark auf einigen wenigen, traditionell prestigeträchtigen Sprachen wie Englisch oder Französisch. Dabei wird übersehen, dass in unserer globalisierten Welt gerade Zuwanderersprachen wie Hindi, Arabisch, Türkisch, Polnisch oder Mandarin besonderes Potenzial für die wirtschaftliche Entwicklung haben.17

Was sind die Vorteile für den Einzelnen?

Die unmittelbaren Vorteile: Mit anderssprachigen Menschen kommunizieren zu können, ein tieferes Verständnis anderer Kulturen zu erlangen, mit fremden (Gedanken-)Welten in direkten Kontakt zu treten. Das ist nicht nur sozial und kulturell, sondern auch beruflich eine wertvolle Ressource. Mehr Sprachen bedeuten generell mehr Chancen.

Die EU hat deshalb das Bildungsziel Dreisprachigkeit (Erstsprache + 2) vorgegeben: Schulen der Mitgliedstaaten sollen allen die Möglichkeit geben, wenigstens zwei Fremdsprachen zu erlernen. Für viele berufliche Positionen wird Englisch heute bereits als selbstverständlich vorausgesetzt. Es sind daher die Kompetenzen in weiteren Sprachen, die einen Wettbewerbsvorteil bringen, sowohl aus Sicht der Unternehmen als auch aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.18

Mittlerweile ist die Wissenschaft sich auch einig, dass der Erwerb mehrerer Sprachen kognitive Vorteile mit sich bringt. Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, sind sich ihrer Sprachen früh bewusst und entwickeln so ein erhöhtes Verständnis dafür, wie Sprachen funktionieren, was wiederum den Erwerb weiterer Sprachen erleichtern kann. Mehrsprachige Menschen können ihre sprachlichen Repertoires zudem sehr schnell an den Kontext und das jeweilige Gegenüber anpassen, sie sind damit geistig flexibler und können sich leichter in andere Sichtweisen hineinversetzen. Neueste Forschungsergebnisse deuten sogar darauf hin, dass zu den kognitiven Vorteilen von Mehrsprachigkeit das verzögerte Einsetzen von Demenz gehören könnte.19

Laufen Mehrsprachige nicht Gefahr, zwar viele Sprachen zu sprechen, aber keine richtig?

Das Gehirn hat Platz für viele Sprachen. Dass etwa Kinder mit mehreren Sprachen überfordert sind, ist ein Mythos, den die Forschung längst widerlegt hat. Was jedoch passieren kann, ist, dass Sprachen unterschiedlich eingesetzt und aktiviert werden. Die deutsche Forscherin Rosemarie Tracy bezeichnet das als „Arbeitsteilung“ zwischen Sprachen.20 So wird eine Sprache vielleicht nur im Freundeskreis und in der Familie gesprochen, während eine andere Sprache vor allem am Arbeitsplatz oder in der Schule verwendet wird. Für die beiden Lebensbereiche benötigen wir aber unterschiedliche sprachliche Strukturen und einen anderen Wortschatz, sodass es schwierig sein kann, mit der Sprache aus dem Freundes- oder Familienkreis komplexe Arbeitsabläufe zu erklären oder schwierige Unterrichtsinhalte wiederzugeben. Zum Teil existieren die jeweiligen Fachbegriffe auch gar nicht in allen Sprachen. Dasselbe kann uns passieren, wenn wir ein sehr komplexes Thema nicht in der Standardsprache, sondern im Dialekt erklären sollen. Auch hier fehlen uns vielleicht manchmal die (dialektalen) Wörter. Umgekehrt würde es jemandem, der in der Familie Dialekt spricht, vielleicht schwerfallen, die Gefühle seinen Liebsten gegenüber in Standardsprache auszudrücken. Veränderte Lebensumstände können außerdem dazu führen, dass wir eine Sprache weniger oder gar nicht mehr verwenden. Möchte man die Sprache dann wieder aktivieren, hat man eventuell Anlaufschwierigkeiten und braucht etwas Zeit, bis man sie wieder flüssig spricht.

Der Sprachgebrauch kann sich im Laufe des Lebens zudem auch im Kontakt mit anderen Sprachen verändern. Daher entspricht die Sprache, mit der Kinder von Migrantinnen und Migranten in der Familie aufwachsen, in manchen Aspekten auch nicht mehr notwendigerweise der Sprache im Herkunftsland. Insgesamt hängt die individuelle Mehrsprachigkeit sehr von den persönlichen Lebensumständen und der eigenen Lebensgeschichte ab. Perfekt ausbalancierte Sprachkompetenzen sind jedenfalls eher die Ausnahme.

Wie geht die Schule in Südtirol mit Sprachenvielfalt um?

Das Bildungswesen Südtirols ist zunächst, entsprechend den drei offiziellen Landessprachen, dreigeteilt: Es gibt eine deutsche, eine italienische und eine ladinische Schulwelt. Damit unterscheidet sich Südtirol von anderen Minderheitenregionen wie zum Beispiel Katalonien, dessen Bildungssystem auf der „katalanischen Immersion“ aufbaut (fast alle Fächer werden in der Minderheitensprache Katalanisch unterrichtet, nur wenige auf Spanisch)21, oder vom Baskenland, wo die Eltern zwischen drei Schulmodellen wählen können (vorwiegend Spanisch, vorwiegend Baskisch, ausgeglichene Mischung)22.

Im Südtiroler Schulwesen spielen Sprachen generell eine wichtige Rolle. Jede Schule stellt jedoch einen Mikrokosmos dar, mit eigener Sprachenvielfalt und viel Spielraum, den Bereich Sprache nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten. So wird etwa in italienischsprachigen Schulen häufig das Modell CLIL (Content and Language Integrated Learning) gewählt, bei dem das Lernen einer anderen Sprache, vorwiegend von Deutsch als Zweitsprache, mit fachlichen Inhalten verschmilzt und so zum Beispiel das Fach Biologie auf Deutsch unterrichtet wird. Die ladinischen Schulen verfolgen überhaupt ein sogenanntes paritätisches Schulmodell, das heißt, die Sprachen Deutsch und Italienisch sind auf die Unterrichtsfächer gleichmäßig verteilt, Ladinisch ist ein verpflichtendes Schulfach und kann zur Erklärung in allen Fächern genutzt werden.23

Das Konzept von Mehrsprachigkeit an Südtirols Schulen legt den Schwerpunkt dabei generell auf die traditionellen Mehrheits- und Schulsprachen. Das heißt, es geht primär um die Vermittlung der Mehrheits- und Minderheitensprachen der Provinz sowie prestigeträchtiger Fremdsprachen wie Englisch oder Französisch. Neue Formen der Mehrsprachigkeit, die Sprachen einschließt, die die Kinder zu Hause in der Familie sprechen, die aber weder Mehrheits- noch Schulsprachen sind, sind hingegen nicht selbstverständlicher Teil des Schulkonzepts; ihre Förderung hängt damit im Wesentlichen vom Engagement und Interesse der jeweiligen Schulführungskraft bzw. einzelner Lehrpersonen ab.

Was passiert im Unterricht, wenn immer mehr Schüler und Schülerinnen eine andere Familiensprache haben als Deutsch oder Italienisch?

In Südtirol hat Eurac Research im Projekt „Sprachenvielfalt macht Schule“ den Spracherwerb in Deutsch, Italienisch und Englisch in acht Mittelschulklassen – vier an deutschsprachigen und vier an italienischsprachigen Schulen – im Verlauf von drei Jahren untersucht; aus den Ergebnissen dieser Untersuchungsgruppe ist kein Zusammenhang zwischen dem Lernfortschritt der Klasse in den Schul- und Unterrichtssprachen und dem Anteil an Schülerinnen und Schülern mit anderen Erstsprachen als Deutsch und Italienisch zu erkennen. Es ist jedoch nötig, den Unterricht an die jeweilige Klasse anzupassen.24

Südtirols Schulen schöpfen dabei die Möglichkeiten, die sich hier für den Sprachunterricht bieten, zunehmend aus: Mehrsprachigkeitsdidaktik ist der Fachbegriff für Unterrichtsstrategien, die Brücken zwischen den Sprachen bauen und sprachliche Kompetenzen, die in einer Sprache erworben werden, auch auf andere Sprachen übertragen. Im Projekt „Sprachenvielfalt macht Schule“ unterstützen die Forscherinnen und Forscher von Eurac Research Schulen und Lehrpersonen bei der Entwicklung solcher didaktischen Methoden auf Basis aktueller,vor Ort entstandener Forschungsergebnisse.

Sind „Sprachmischungen“ gefährlich für die Sprachentwicklung?

Aus Sicht der Sprachwissenschaft gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, wie mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher ihre Sprachen „mischen“ können. Das hat zumeist nichts mit schlechter Sprachbeherrschung zu tun, sondern ist vielmehr ein Indiz für multiple Gruppenzugehörigkeit.

Unter „Code-Switching“ versteht man etwa den bewussten oder unbewussten Wechsel zwischen zwei oder mehreren Sprachen bzw. Dialekten je nach Situation und Gegenüber.

Beim „Code-Mixing“ wechseln Sprecher innerhalb eines Satzes zwischen den Sprachen, etwa weil ein Begriff aus einer Sprache gerade zum Thema passt oder das, was man sagen will, besser ausdrückt.

Beim „Crossing“ geht es den Sprecherinnen und Sprechern schließlich darum, mit den Sprachen zu spielen, indem sie etwa eine bestimmte Sprachverwendung parodieren.

Dieser kreative Umgang mit Sprachen zeigt sich auch in den sozialen Medien: Das Eurac-Research-Projekt „Digital Natives - Digital Immigrants“ (DIDI) konnte hier zeigen, dass Südtiroler Facebook-Nutzer und -Nutzerinnen nicht nur Dialekt und Standardsprache, sondern auch nach Lust und Laune verschiedene Sprachen miteinander verbinden (Beispiele in Abbildung 3).

Mehrsprachig aufwachsende Kinder durchlaufen ebenfalls eine Phase, in der sie die Sprachen stark „mischen“. Dennoch sind sich die Kinder schon früh bewusst, dass es sich um unterschiedliche Systeme handelt. Die einzelnen Sprachen entwickeln sich jedoch nicht unbedingt gleichmäßig, sodass Lücken in der einen Sprache zunächst mit der anderen gefüllt werden können. Um den Spracherwerb optimal zu unterstützen,braucht dabei jedes Kind, egal ob einsprachig, zweisprachig oder mehrsprachig, ein möglichst intensives, vielfältiges und regelmäßiges Sprachangebot.

Im öffentlichen Diskurs wird Sprachmischung oft als Gefahr für die einzelnen Sprachen dargestellt und zum Beispiel die Verbreitung von Anglizismen beklagt. Jede moderne Sprache spiegelt jedoch Einflüsse aus anderen Sprachen wider: Die meisten Wörter, die wir täglich benutzen, sind irgendwann in unsere Sprache „eingewandert“, wurden aus anderen Sprachen übernommen und angepasst. „Zucker“ heißt es auf Deutsch, „zucchero“ auf Italienisch,„zucher“ auf Grödner-Ladinisch und „zücher“ im Gadertal – die gemeinsame Wurzel ist das Sanskrit-Wort für Sand: „sárkarā“. Solche Beispiele gibt es hunderte, aus benachbarten und weit entfernten Sprachen. Nur dass uns heute, anders als etwa bei „mailen“, bei „Zucker“ der „Migrationshintergrund“ nicht mehr auffällt.

Abbildung 3: In sozialen Medien spielen Südtirolerinnen und Südtiroler gern mit Sprachen, und das in jedem Alter: Dies zeigte die Studie „Digital Natives - Digital Immigrants“ (DIDI) von Eurac Research, die Facebook-Einträge untersuchte.

Wie kann Südtirol die Chancen von Mehrsprachigkeit noch besser nutzen?

Zusammen mit Forscherinnen und Forschern aus ganz Europa hat Eurac Research im Projekt „Ansätze zur Mehrsprachigkeit an Schulen in Europa“ (AMuSE) unterschiedliche Modelle zur Förderung von Mehrsprachigkeit in Europa miteinander verglichen, um daraus allgemeine Empfehlungen abzuleiten. Ein zentraler Ansatzpunkt kristallisierte sich dabei heraus: Im Bildungsbereich wie in der Gesellschaft allgemein gilt es, das Wissen um Mehrsprachigkeit zu erweitern, um Mythen und Vorurteilen vorzubeugen – wie etwa der Annahme, dass mehrsprachige Kinder keine Sprache „richtig“ lernen oder dass bestimmte Sprachen wichtiger sind als andere. Alle Sprachen sind es wert, geschützt und gefördert zu werden. Nur durch ein sprachenfreundliches Umfeld können Kinder das Vertrauen entwickeln, ihr gesamtes Sprachenrepertoire zu nutzen und zu auszubauen. Nur so können wir sichergehen, dass die Vielfalt der Sprachen auch in Zukunft bestehen bleibt.

e+learning


Die Inhalte des Dossiers sind auch in diesem digitalen Kurs für Mittel- und Oberschüler verfügbar.

iconInfo

Einzelheiten zu den Studien finden Sie hier:

1: ASTAT (2020), Statistisches Jahrbuch 2019, Bozen, S. 119.
2: ASTAT (2020), Statistisches Jahrbuch 2019, Bozen, S. 110.
3: Pakistan, Country Profile 2020. In: Eberhard, David M. / Simons, Gary F. / Fennig, Charles D. (eds.). 2020. Ethnologue: Languages of the World. Twenty-third edition. Dallas, Texas: SIL International. Online version: http://www.ethnologue.com (einges. 01/09/2020)
4: Medda-Windischer, Roberta / Membretti, Andrea (ed.) (2020), Migrationsreport Südtirol 2020/ Rapporto sulle migrazioni Alto Adige 2020, Bolzano.
5: Medda-Windischer, Roberta / Membretti, Andrea (ed.) (2020), Migrationsreport Südtirol 2020/ Rapporto sulle migrazioni Alto Adige 2020, Bolzano, S. 19.
6: ASTAT (2019), Ausländische Wohnbevölkerung 2018, astatinfo 30(4).
7: Council of Europe (ed.) (2020), Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Companion Volume, Strasbourg, S. 30
8: Wandruszka, Mario (1975), Mehrsprachigkeit. Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik: Jahrbuch 1974, Düsseldorf, S. 321-350. / Marcato, Carla (2012), Il plurilinguismo, Bari.
9: Davies, Alan (2003), The Native Speaker: Myth and Reality. Clevedon.
10: Lanthaler, Franz (2018), Alter Sprachkontakt. Frühe romanische Entlehnungen in den Dialekten Südtirols. In: Rabanus, Stefan (ed.), Deutsch als Minderheitensprache in Italien. Theorie und Empirie kontaktinduzierten Sprachwandels. Hildesheim / Zürich / New York, S. 239-281.
11: Ciccolone, Simone (2016), Italiano e tedesco in contatto: alcune osservazioni macro- e microsociolinguistiche in Alto Adige, Quaderns d’Italià 21, S. 27-44.
12: Grote, Georg / Siller, Barbara (2011), Südtirolismen: Erinnerungskulturen Gegenwartsreflexionen – Zukunftsvisionen. Innsbruck.
13: Arntz, Reiner et al. (2014), Einführung in die Terminologiearbeit, Hildesheim.
14: Ralli, Natascia /Andreatta, Norbert (2018): bistro – ein Tool für mehrsprachige Rechtsterminologie. trans-kom -Zeitschrift für Translationswissenschaft und Fachkommunikation 11 (1), S. 7-44. http://www.trans-kom.eu/bd11nr01/trans-kom_11_01_02_Ralli_Andreatta_Bistro.20180712.pdf
15: Simons, Gary F. (2019), Two centuries of spreading language loss. Proceedings of the Linguistic Society of America 4(27), S. 1-12.
16: Council of Europe (1992), European Charter for Regional or Minority Languages, Strasbourg.
17: Centre for Economics and Business Research zit. in British Council (2017), Languages for the future: The foreign languages the United Kingdom needs to become a truly global nation, London.
18: European Commission (2012), Rethinking Education: Investing in skills for better socio-economic outcomes. Strasbourg.
19: Bialystok, Ellen et al. (2016), Aging in Two Languages: Implications for Public Health. Aging Research Reviews 27, 56-60. / Hack, Erica E. et al. (2019), Multilingualism and Dementia Risk: Longitudinal Analysis of the Nun Study. Journal of Alzheimer‘s Disease 71(1), S. 201-212.
20: Tracy, Rosemarie (2011), Wie Kinder Sprachen lernen: und wie wir sie dabei unterstützen können, Tübingen.
21: Mercator European Research Centre on Multilingualism and Language Learning (2013), The Catalan language in education in Spain. Regional Dossier. Ljouwert/Leeuwarden. www.mercatorresearch.eu/fileadmin/mercator/documents/regional_dossiers/catalan_in_spain_2nd.pdf
22: Mercator European Research Centre on Multilingualism and Language Learning (2005), The Basque language in education in Spain. Regional Dossier. Ljouwert/Leeuwarden. www.mercatorresearch.eu/fileadmin/mercator/documents/regional_dossiers/basque_in_spain_2nd.pdf
23: Verra, Roland (2016), The Ladin language in education in Italy. Mercator European Research Centre on Multilingualism and Language Learning. Online: https://www.mercator-research.eu/fileadmin/mercator/documents/regional_dossiers/ladin_in_italy_2nd.pdf
24: Krifka, Manfred et al. (2014), Das mehrsprachige Klassenzimmer: Über die Muttersprachen unserer Schüler, Heidelberg.

Impressum

Autorinnen: Sabrina Colombo, Maria Stopfner und Flavia De Camillis - Forscherinnen am Institut für Angewandte Sprachwissenschaft von Eurac Research

Wissenschaftliche Mitarbeit: Andrea Abel, Dana Engel, Verena Platzgummer, Lorenzo Zanasi, Elena Chiocchetti

Redaktion: Barbara Baumgartner
Illustration: Oscar Diodoro
Grafik: Alessandra Stefanut

 

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