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Im Kopf von Lawinenopfern

Notfallmediziner beobachten erstmals die zerebrale Sauerstoffversorgung unter dem Schnee

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Giacomo Strapazzon mit einer Testperson in Prags (Bz)

© Eurac Research | Annelie Bortolotti

Annelie Bortolotti
by Elena Munari

Dank der NIRS-Methode (Nah-Infrarot-Spektroskopie) haben Forscher erstmals gemessen, wie gut bzw. schlecht das Gehirn bei einer Lawinenverschüttung mit Sauerstoff versorgt wird und zwar mithilfe von Freiwilligen, deren Verschüttung simuliert wurde. Ziel war es zu verstehen, inwiefern der Grad der Sauerstoffversorgung einen Einfluss darauf hat, dass der Verschüttete länger ohne neurologische Folgeschäden überlebt, in Folge des Auftretens des Triple-H-Syndroms (Hypoxie, Hyperkapnie und Hypothermie). Die Studienergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift „Resuscitation” veröffentlicht.

Werden Lawinenopfer von den Schneemassen befreit, ist die größte Sorge der Rettungskräfte, dass die Verschütteten aufgrund des anhaltenden Sauerstoffmangels neurologische Schäden davontragen. Die Kälte ist jedoch von Vorteil: Überlebt das Lawinenopfer längere Zeit im Schnee, sinkt die Körpertemperatur allmählich ab und schützt die Gehirnzellen vor bleibenden Schäden – trotz einer Abnahme des Sauerstoffgehalts im Blut und einer Zunahme des Kohlendioxids (weil ein Luftaustausch fehlt). Unter Ärzten und Rettungskräften ist dieses Phänomen als Triple-H-Syndrom bekannt.

Aber wieso tritt dieses Syndrom nur in einigen Fällen auf? Könnte sein Auftreten vom Grad der Sauerstoffversorgung im Gehirn abhängen? Und welche Rolle spielen dabei die Eigenschaften des Lawinenschnees? Antworten auf diese Fragen könnten dazu beitragen, von den Schneemassen befreite Lawinenopfer besser zu behandeln. Doch das gestaltet sich schwierig, weil das Triple-H-Syndrom im menschlichen Körper zwar beobachtet, jedoch nur schwer simulierbar ist. 2014 haben Experten für alpine Notfallmedizin von Eurac Research in Prags (Hochpustertal, Südtirol) ein Experiment gewagt.

Für die Tests atmeten zwölf freiwillige Testpersonen 30 Minuten lang in die vorbereitete Atemhöhle einer künstlichen Lawine. Um ihre Sicherheit zu wahren, wurden sie nicht darin eingegraben, sondern saßen außerhalb der simulierten Lawine, direkt an der Schneewand. Der Test wurde unterbrochen, wenn die Probanden über Atemnot oder Übelkeit klagten, oder wenn die Forscher feststellten, dass die Sauerstoffversorgung im Blut übermäßig abfiel. Mit der NIRS-Technik (Nah-Infrarot-Spektroskopie) überwachten die Forscher die zerebrale Sauerstoffversorgung der Probanden. Es handelt sich dabei um eine diagnostische, nichtinvasive Methode, die es erlaubt, mit speziellen Sensoren die Sauerstoffversorgung von tiefer liegenden Geweben in Echtzeit zu messen.

Dank der NIRS-Technik haben wir experimentell bewiesen, wie wichtig eine angemessene Sauerstoffversorgung im Gehirn für das Überleben ohne bleibende Schäden für Lawinenverschüttete ist und gezeigt, dass die Eigenschaften des Lawinenschnees dabei grundlegend sind.

Giacomo Strapazzon

Dabei stellten die Experten fest, dass die Probanden, die es schafften, bis zum Ende der Tests zu atmen, eine erhöhte zerebrale Sauerstoffsättigung aufwiesen und in einer realen Situation wahrscheinlich das Triple-H-Syndrom entwickelt hätten: Obwohl ihre Körpertemperatur sank, sorgte der Schnee für eine ausreichende Sauerstoffzufuhr und absorbierte gleichzeitig das Kohlendioxid. Im Gegensatz dazu zeigten die Probanden, die den Test vorzeitig unterbrechen mussten, eine reduzierte Sauerstoffsättigung im Gehirn, wahrscheinlich weil der Schnee weder eine angemessene Sauerstoffzufuhr garantierte noch das Kohlendioxid ausreichend absorbierte. Eine länger anhaltende Situation dieser Art hätte zu einer Schädigung des Gehirns und anschließend zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand geführt.

Diese experimentelle Studie hat erstmals gezeigt, wie die Sauerstoffversorgung des menschlichen Gehirns, die aus dem Schnee diffundierende Luft und das Auftreten des Triple-H-Syndroms zusammenhängen. Tatsächlich führt ein geringgradiger Sauerstoffmangel nicht zu einer Verminderung des Sauerstoffs im Gehirn. Über Selbstregulierungs- und Kompensierungs-Mechanismen ist eine ausreichende Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff für eine gewisse Zeit gewährleistet.

“Dank der NIRS-Technik haben wir experimentell bewiesen, wie wichtig eine angemessene Sauerstoffversorgung im Gehirn für das Überleben ohne bleibende Schäden für Lawinenverschüttete ist und gezeigt, dass die Eigenschaften des Lawinenschnees dabei grundlegend sind. Bei Schnee mit einer geringen oder mittleren Dichte ist ein Ersticken weniger wahrscheinlich als bei hoher Schneedichte“, erklärt Giacomo Strapazzon, Erstautor der Publikation und stellvertretener Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin von Eurac Research. “Wie häufig in der Grundlagenforschung, wirken sich unsere Ergebnisse derzeit nicht direkt auf die klinische Praxis aus. Man könnte jedoch den Einsatz der NIRS-Technik erwägen, um die Triage und die Behandlung der Verschütteten zu verbessern, und man könnte bereits vor der Einlieferung ins Krankenhaus abschätzen, ob es zu einer Gehirnschädigung gekommen ist“, meint Strapazzon abschließend.

Wissenschaftliche Publikation


Hier finden Sie den frei zugänglichen Fachartikel mit den Studienergebnissen: frei zugänglichen Fachartikel

Weitere Publikationen des Instituts für Alpine Notfallmedizin von Eurac Research im digitalen Archiv BIA

Zur Schneedichte-Studie in Prags

Neben der Messung der zerebralen Sauerstoffsättigung mit der NIRS-Technik war das Hauptziel der 2014 in Prags durchgeführten experimentellen Studie, zu zeigen, dass zwischen Schneedichte und Atmungsfähigkeit von Lawinenverschütteten ein direkter Zusammenhang besteht.

Dabei schufen die Forscher eine künstliche Lawine, aus der sie für jeden der 12 freiwilligen Testpersonen eine standarisierte Atemhöhle herausstanzten. Um zu untersuchen, wie sich die verschiedenen Schneedichten auswirken, fand die Studie in drei Durchläufen jeweils im Jänner, Februar und März statt: Während der Schnee im Jänner tendenziell locker und trocken ist, wird er im Februar und März zunehmend dichter und nasser – und senkt die Überlebenschancen von Lawinenverschütteten. Im Jänner hatten die Testpersonen in den Tests mit geringer Schneedichte weniger Atembeschwerden, auch die Sauerstoffsättigung im Blut war während der gesamten Testdauer ausreichend. Der dichte, nasse Schnee im Februar und März verhielt sich hingegen ähnlich wie eine luftdichte Plastiktüte: Er hemmte den Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid in der Atemhöhle. Schon nach kurzer Zeit waren die Probanden nicht mehr in der Lage zu atmen und mussten den Test unterbrechen.

Die weltweit einzigartigen Studienergebnisse wurden 2017 in der Online-Ausgabe Scientific Reports der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Sie zeigen, dass der Schnee überlebenswichtigen Sauerstoff liefert und in einigen Fällen ausgeatmetes Kohlendioxid absorbiert, was die Erstickungsgefahr verzögert.

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Eine von Eurac Research koordinierte Studie zeigt, wie grundlegend die Schneedichte für die Atemfähigkeit eines Lawinenopfers ist.

Übersetzung: Sara Senoner

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