Sabrina Colombo

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Südtirol wird immer mehrsprachiger

Ein Gespräch mit der Sprachforscherin Sabrina Colombo

Annelie Bortolotti
© Eurac Research | Annelie Bortolotti
by Valentina Bergonzi

Als Kind wollte man ihr den Mailänder Dialekt der Großeltern nicht beibringen – sie vergaß es nicht und entschied sich später, über Mehrsprachigkeit zu forschen. In den vergangenen Jahren hat die Sprachforscherin Sabrina Colombo mit ihren Kolleginnen von Eurac Research in über 60 Südtiroler Schulen, von Bozen übers Gadertal bis nach Innichen, mehr als 2500 Kinder und Jugendliche getroffen und 9900 Stunden Workshops abgehalten.

Wie viele Sprachen werden in Südtirol gesprochen?

Sabrina Colombo: Sehr viel mehr als noch vor zwanzig Jahren, aber genaue Zahlen gibt es nicht und sie wären auch schwierig zu erheben. Die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung erfasst nur die drei offiziellen Sprachgruppen, und die Herkunftsländer der neu zugezogenen Menschen geben auch nur einen ungefähren Hinweis – vergessen wir nicht, dass zum Beispiel allein in Pakistan über 50 Sprachen gesprochen werden. Ein Blick in die Schulen vermittelt einen guten Eindruck: Mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, mit denen wir in diesen Jahren gearbeitet haben, hat erklärt, neben dem Dialekt und den in der Schule unterrichteten Sprachen noch über Kompetenzen in mindestens einer anderen Sprache zu verfügen.

Sind all diese Sprachen mit den neu zugezogenen Menschen nach Südtirol gekommen?

Colombo: Migration spielt eine Rolle, aber auch der Tourismus, die engen wirtschaftlichen Kontakte mit dem Ausland, Medien und Internet. In einer Studie haben wir Facebook-Posts deutschsprachiger Südtiroler und Südtirolerinnen untersucht und gesehen, dass sie sehr kreativ Dialekt, Standardsprache und verschiedene Fremdsprachen miteinander verbinden.

Allein in Papua-Neuguinea werden mehr als 800 Sprachen gesprochen – Europa mit nur 287 Sprachen bildet da das Schlusslicht.

Bedeuten Sprachmischungen für die einzelnen Sprachen eine Gefahr, wie manchmal behauptet wird?

Colombo: Nein: Jede moderne Sprache spiegelt Einflüsse aus anderen Sprachen wider. Die meisten Wörter, die wir täglich benutzen, sind irgendwann in unsere Sprache „eingewandert", wurden aus anderen Sprachen übernommen und angepasst. „Zucker" heist es auf Deutsch, „zucchero" auf Italienisch, „zucher" auf Grödner-Ladinisch und „zücher" im Gadertal – die gemeinsame Wurzel ist das Sanskrit-Wort für Sand: „sarkarā". Nur dass uns bei diesen Wörtern der Migrationshintergrund nicht mehr auffällt. In den Schulen stoßen solche Beispiele immer auf begeistertes Interesse; um neue zu entdecken, besuche ich oft Grundkurse in den verschiedensten Sprachen, etwa Chinesisch und Afrikaans.

Immer mehr Kinder und Jugendliche sprechen Zuhause eine andere Sprache als die Schulsprachen. Wie wirkt sich dies auf den Unterricht aus?

Colombo: Wir haben den Spracherwerb in Deutsch, Italienisch und Englisch in acht Mittelschulklassen – vier an deutschsprachigen und vier an italienischsprachigen Schulen – im Verlauf von drei Jahren untersucht: Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungsgruppe ist kein Zusammenhang zwischen dem Lernfortschritt der Klasse in den Schul- und Unterrichtssprachen und dem Anteil an Schülerinnen und Schülern mit anderen Erstsprachen als Deutsch und Italienisch zu erkennen. Es ist jedoch nötig, den Unterricht an die jeweilige Klasse anzupassen. Südtirols Schulen schöpfen dabei die Möglichkeiten, die sich hier für den Sprachunterricht bieten, zunehmend aus: Mehrsprachigkeitsdidaktik ist der Fachbegriff für Unterrichtsstrategien, die Brücken zwischen den Sprachen bauen. Wir unterstützen die Schulen bei der Entwicklung solcher didaktischen Methoden.

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Welches ist das hartnäckigste Vorurteil?

Colombo: Die Vorstellung, dass mehrsprachige Kinder keine Sprache richtig sprechen, und dass einige Sprachen wichtiger als andere sind. Tatsächlich hat unser Gehirn Platz für viele Sprachen. Die Sprachen können allerdings unterschiedlich eingesetzt und aktiviert werden, eine zum Beispiel mehr am Arbeitsplatz, die andere in der Familie. Die deutsche Forscherin Rosemarie Tracy bezeichnet das als „Arbeitsteilung“ zwischen Sprachen. Wichtig ist: Nur durch ein sprachenfreundliches Umfeld können Kinder das Vertrauen entwickeln, ihr gesamtes Sprachenrepertoire zu nutzen und zu auszubauen. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass Mehrsprachigkeit weltweit betrachtet der Normalfall ist. Allein in Papua-Neuguinea werden mehr als 800 Sprachen gesprochen – Europa mit nur 287 Sprachen bildet da das Schlusslicht.

Sind die Vorteile der Mehrsprachigkeit messbar?

Colombo: Da ist einmal die persönliche Bereicherung, mit anderssprachigen Menschen kommunizieren zu können und ein tieferes Verständnis anderer Kulturen zu erlangen. Aber auch wirtschaftlich profitieren Gesellschaften von Mehrsprachigkeit, vor allem im Zuge zunehmender Globalisierung. Vor ein paar Jahren hat die Economist Intelligence Unit der Unternehmensgruppe des Economist Führungskräfte auf der ganzen Welt befragt: 43% haben erklärt, ihr Unternehmen habe wegen sprachlicher Missverständnisse oder wegen Kommunikationsproblemen bei grenzüberschreitenden Geschäften schon mehrmals Nachteile erlitten.

Dossier Mehrsprachigkeit


Die Sprachenvielfalt Südtirols, alte und neue, aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet: Was ist der Stand der Forschung? Wie sieht die Schulpraxis aus? Und der rechtliche Rahmen? Was haben wir von Mehrsprachigkeit und wie können wir ihre Möglichkeiten noch besser ausschöpfen?

Sabrina Colombo

Sie hat sich in Como und Frankfurt auf Sprachvermittlung spezialisiert. Bevor sie sich der Mehrsprachigkeit in Südtirol widmete, untersuchte sie den Erfolg des Baskischen in den Schulen des Baskenlands, das fast vergessene Gälisch in den irischen Schulen und den Romani-Unterricht in den ungarischen Regionen mit einer Roma-Minderheit. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Maria Stopfner und Flavia De Camillis hat sie ein Dossier zur Mehrsprachigkeit in Südtirol verfasst.

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