In beispielloser strategischer Zusammenarbeit und in kürzester Zeit wurde in Südtirol die Schließung aller Liftanlagen und Beherbergungsbetriebe beschlossen. Andere touristische Hotspots wie Ischgl oder Åre reagierten hingegen zögerlich – mit teils fatalen Folgen. Wie sich der Destination Shutdown einer ganzen Region aufgrund der Corona-Krise anfühlt? Der chronologische Bericht aus Südtirol kann ein wichtiges Learning für andere Destinationen sein.
Montag, 9. März 2020: In einer beispiellosen gemeinsamen Entscheidung kündigt Südtirols Tourismuswirtschaft im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz die sofortige Schließung aller Liftanlagen und Beherbergungsbetriebe aufgrund der Zuspitzung der Coronavirus-Krise an. Es ist ein abgestimmtes Vorgehen des Hoteliers- und Gastwirteverbandes, des Bauernbundes (Urlaub am Bauernhof), des Verbandes der Privatzimmervermieter, des Verbandes der Seilbahnunternehmer, des Südtiroler Sanitätsbetriebes, der Standortagentur IDM Südtirol Alto Adige sowie der Südtiroler Landesregierung. Diesem Schritt vorausgegangen war eine intensive Auseinandersetzung zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen über die Strategie, die Art und den Zeitpunkt des Shutdown.
Um einen Vergleich zu bemühen: Während die Entscheidung in Südtirol auf einer Empfehlung der genannten Verbände gegenüber ihren Mitgliedern beruhte, und zwei Tage nach der Ankündigung am Montag die letzten Gäste das Land verließen, teilten die politischen Vertreter des Bundeslandes Tirol am Donnerstagabend, 12. März mit, dass alle Seilbahnen Tirols am 15. März und die Beherbergungsbetriebe am 16. März gesetzlich und behördlich geschlossen werden.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte Südtirol bereits am 5. März als vierte Region Italiens zum Risikogebiet erklärt. Das Bundesland Tirol gilt gemäß Robert-Koch-Institut (RKI) seit Samstagabend, 14. März als Risikogebiet. Zuvor hatte die österreichische Bundesregierung am Nachmittag des 13. März das gesamte Paznauntal samt der bekannten Destinationen Ischgl und Galtür sowie St. Anton für 14 Tage unter Quarantäne gestellt. Die ausländischen Gäste wurden zur sofortigen Ausreise aufgefordert. Zur besseren Einordnung sei darauf verwiesen, dass Südtirol als nördlichste Provinz Italiens, Tage früher klären musste, wie man mit der, in der Zwischenzeit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärten Coronavirus-Krise umgehen sollte.
Italien ist von Anfang an und immer noch das Land mit der höchsten Zahl an Infizierten und Toten in Europa. Italien ist aber auch das Land, welches nach anfänglichem Zögern – nicht zuletzt aufgrund der nicht vorhandenen Erfahrung in Europa – radikale Maßnahmen setzen musste, um ein zentrales Ziel, nämlich die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus und die Sicherstellung eines funktonierenden Gesundheitssystems zu ermöglichen.
In der Nacht zum Sonntag, den 8. März wurde Norditalien (die gesamte Region Lombardei sowie 14 weitere Provinzen) zur Sperrzone erklärt. Bereits in der Nacht zum Dienstag, den 10. März wurde ganz Italien zu einer Schutzzone (zona protetta) erklärt, mit weitreichenden Einschränkungen für die Bewegungs- und Reisefreiheit, gefühlt eine Art Hausarrest und jedenfalls eine Art nationale Quarantäne. Verstärkt wurde dies durch die Grenzsperrungen oder „Einschränkungen im Grenzverkehr“ quer durch Europa.
Aus Südtiroler Sicht und damit aus Sicht einer Grenzregion war die österreichische Sperrung der Grenze zu Italien eine Maßnahme, die zwar großteils auf Verständnis stieß, aber eben doch auch klar machte, dass man in der Folge eingeschlossen oder ausgeschlossen – je nach Sichtweise – war. Nicht mehr ausreisen zu dürfen ist das eine – woanders nicht mehr einreisen zu dürfen, das andere.
Viele Gäste mussten in den letzten Wochen erleben, was es bedeutet, sich aufgrund der beinah überfallsartigen Schließung ganzer Destinationen in Europa überlegen zu müssen, wie man aus dem Urlaubsort wieder nach Hause kommt. Vor allem, wenn sie auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen waren, die obendrein von vielen Ländern und Regierungen im Zuge der Beschränkungen der Bewegungsfreiheit ebenso eingeschränkt wurden.
Ebenso mussten viele überlegen, ob sie an ihrem Arbeitsplatz bleiben konnten, der im zunehmend mobilen Europa auch nicht mehr selbstverständlich im selben Land wie der Hauptwohnort ist oder nach Hause zu ihren Familien ziehen sollten. Dies wohl in der Vorahnung, dass sie, aufgrund der sich zuspitzenden Lage in den einzelnen Ländern eingesperrt oder eben ausgesperrt würden. Die Corona-Pandemie offenbart unterschiedliche Notwendigkeiten und Rahmenbedingungen, unterschiedliche, aber enge zeitliche Abläufe sowie unterschiedliche Vorgehensweisen beim Destination Shutdown.
Anfang März waren erst rund zwei Drittel, der bis dahin glänzend verlaufenden Wintersaison vorbei. Es gab viel Schnee und eine große Nachfrage für das letzte Drittel der Wintersaison, welche den Frühjahrsskilauf bis Ostern umfasst. Im Winterhalbjahr 2018/19 verzeichnete Südtirol 3 Millionen Ankünfte und etwas mehr als 12 Millionen Übernachtungen. Davon fallen etwa 4 Millionen Übernachtungen auf Gäste aus anderen italienischen Regionen, gut 5 Millionen Übernachtungen auf Gäste aus Deutschland. Der Rest verteilt sich auf vornehmlich zentral- und osteuropäische Länder sowie Skandinavien und die Nachbarmärkte Schweiz und Österreich. Das Beherbergungs- und Gastronomiewesen generierte etwa 3,5 Milliarden Euro Umsatz. Es ist dies wichtig zu betonen, um zu verstehen, dass ein derart mächtiges Destinationssystem besondere Fähigkeiten beim Shutdown entfalten muss.
Die Zahlen können in etwa einen Eindruck vermitteln, welche ökonomische und soziale Bedeutung der Tourismus insgesamt hat, und welcher Erfolgsdruck damit zusammenhängt. Zweitens war man de facto inmitten einer brummenden Saison, die es aufgrund sich radikal ändernder Rahmenbedingungen innerhalb von 48 Stunden zu beenden galt. Weiters war sofort allen Beteiligten klar, dass diese Krise sich nicht nur auf die aktuelle Wintersaison beschränkt, sondern auch massive Konsequenzen für die darauffolgende Sommersaison mit sich ziehen würde. Jahrzehntelang war das Tourismussystem Südtirol so wie die meisten im Alpenraum gewachsen und somit mehr oder weniger erfolgsverwöhnt, was den abrupten Abschied aus der laufenden Saison noch schwieriger machte.
Am Montag, 9. März wurde den Gästen mitgeteilt, dass sie spätestens am Mittwoch ihren Beherbergungsbetrieb und die Destination verlassen mussten. Ein Erfolgsfaktor war gewiss der Umstand, dass die bereits am Sonntag getroffene Entscheidung über die informellen Kanäle an die Gebietsverantwortlichen der genannten Verbände in den verschiedenen Destinationen Südtirols weitergegeben werden konnte. Zum Zeitpunkt der offiziellen Pressekonferenz waren die Entrepreneure des Tourismus bereits mit den Vorbereitungen des Shutdowns beschäftigt.
So gewann man Zeit, die wertvoll war bei der „Verabschiedung“ der Gäste. Allesamt hatten ihre individuellen Probleme, welche einer kurzfristigen Lösung harrten. Und es blieb genug Zeit, die Gäste entsprechend kulant und fair bei der Stornierung zu behandeln – sind diese Gäste aufgrund des hohen Stammgästeanteils doch allesamt potenziell wiederkehrende Gäste. Unterstützend hinzu kam die Einrichtung einer Hotline des Hoteliers- und Gastwirteverbandes, wo praktisch täglich über Stornobedingungen und sonstige Herausforderungen informiert wurde.
Als effektiv erwies sich in diesen Stunden auch das Management des (informellen und formellen) Informationsflusses durch die DMOs, sprich der Tourismusvereine auf lokaler und regionaler Ebene. Das Zusammenspiel von Verbänden (als Interessensvertreter des Beherbergungssektors sowie der Liftanlagen) auf Landes- und Bezirksebene, von verschiedenen Stellen der Südtiroler Landesregierung und der einzelnen Gemeinden, den DMOs sowie den Betrieben selbst, dürfte der eigentliche Erfolgsfaktor in der Phase des Shutdowns gewesen sein.
Die Feedback-Schleifen zwischen den zentralen Stellen der Landesregierung in Bozen und den verschiedenen Talschaften und Tourismusregionen des Landes waren sehr eng. Dies wurde besonders deutlich, als nach Abreise der Hotelgäste am Mittwoch, den 11. März in vielen Destinationen klar wurde, dass es immer noch einen hohen Gästeanteil in einigen Orten Südtirols gab, an welchen man in der ersten Phase des Shutdowns nicht gedacht hatte: die Eigentümer von Zweitwohnungen.
Der Besitz von Zweitwohnungen ist weitverbreitetes Phänomen in vielen Top-Destinationen des Alpenraums. In Italien unterscheidet man nach Wohnsitz und Domizil. Die Zweitwohnungsbesitzer melden in den Gemeinden eine Art Zweitwohnsitz (domicilio) an. Am besagten Mittwoch wurde klar, dass ein beachtlicher Teil der Bewohner der Zweitwohnungen nicht daran dachte, in ihre Wohnorte, zumeist in Norditalien, zurückzukehren. Und so wurde eine weitere Verordnung der Landesregierung am Donnerstag, 12. März herausgegeben, mit der klaren Anweisung an alle Zweitwohnungsbesitzer, an ihre Hauptwohnsitze zurückzukehren. Kaum jemand wollte zurück in die Lombardei, die längst schon mit ihrem Gesundheitssystem an die Grenzen kam. Und so wurde eines offensichtlich: In Zeiten der Coronavirus-Krise geht es auch um den Wettbewerb der Gesundheitssysteme. Es geht zuallererst darum, diese der eigenen Bevölkerung vorzubehalten.
Ein Tourismussystem lebt nicht nur von Gästen und Entrepreneuren, sondern im Besonderen von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dies wurde beim Destination Shutdown besonders deutlich. Wie die meisten alpinen Tourismusdestinationen lebt so ein System von den Saisonen und damit von saisonalen Arbeitskräften, die aus aller Herren Länder, vornehmlich aus Zentral- und Osteuropa, kommen.
Das abrupte Saisonende bedeutete die vorzeitige Beendigung dieser saisonalen Arbeitsverhältnisse. Niemand war darauf vorbereitet, die schnelle Einschreibung in die Arbeitslosenlisten – wie in Italien möglich – beim Nationalen Fürsorgeinstitut zu erwirken, zumal auch die Mitarbeitenden aus anderen Ländern Italien verlassen mussten, was viel schwerer umzusetzen war als bei den Urlaubsgästen. Viele Grenzen von Durchzugsländern waren bereits geschlossen oder Quarantäneregelungen eingeführt worden.
Die zentrale Governance des Destination Shutdown war durch eine „Task Force Tourismus“ unter der Leitung der Südtiroler Standortagentur IDM-Südtirol-Alto Adige gewährleistet. Verbände und Liftunternehmen, ergänzt durch das weltgrößte Skiverbundsystem Dolomiti Superski sowie den Campingplatzverband, bildeten diese Task Force. Mehrmals täglich war sie mit dem landesweiten Lagezentrum und Krisenstab zum Bevölkerungsschutz in Verbindung um sich abzustimmen. Alle strategischen Fragen wurden dort entschieden und direkt über die jeweiligen Verbände an ihre Mitglieder, die Unternehmen und an die Gebiete weitergegeben. Und diese Task Force entwickelt sich jetzt – nach Abzug der Gäste – zu einer Strategiegruppe für den Wiederaufbau des Tourismus. Zentrale Fragen, wie beispielsweise der Umgang mit Großveranstaltungen, die in den nächsten Monaten und Saisonen anstehen, müssen entschieden werden.
Es waren in den letzten Tagen und Wochen vor allem Disziplin, Transparenz, Ehrlichkeit, eine effiziente Kommunikationskette sowie der vorrangige Blick auf die Gesundheit der Bevölkerung, die den Destination Shutdown erleichterten. Das Investment in die langfristige Loyalität der Gäste und die Mitarbeitenden der touristischen Betriebe durch kulante Behandlung war zugleich ein Investment in eine Zeit, von der man zumindest heute noch nicht sagen kann, wann sie denn kommen wird.
Sorgenvoll blicken nicht nur die Tourismusverantwortlichen des Landes aktuell auf Deutschland und die Art des Krisenmanagements. „Ungefähr neun Tage liegt Deutschland bei der Zuspitzung der Coronavirus-Krise hinter Italien. Deutschland muss in den nächsten Wochen einen guten Job machen und harte Entscheidungen treffen. Ansonsten kommt das echte Problem für Südtirol und andere Destinationen dann, wenn der Reiseweltmeister Deutschland nicht rasch genug die Voraussetzungen zum Reisen wiedererlangt“, sagt etwa Wolfgang Töchterle, Leiter der „Task Force Tourismus“ von IDM Südtirol-Alto Adige.
Was bleibt? Die Betriebe, welche sich durch die Investitionen in Hotelanlagen verschuldet haben, müssen ihre Darlehen weiter tilgen. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen ihre Mieten und Rechnungen begleichen. Das Tourismussystem wankt noch nicht, zumal Banken und Kreditgeber kurzfristig entgegenkommend sind. Dennoch wird es eine harte Zeit für alle Beteiligten. Auch wird einer Region in Quarantäne-Zeiten mit beschränkten Ausgangsmöglichkeiten, völlig zusammengebrochenen Reisefreiheiten und nicht nur menschenleeren, sondern „gäste-leeren“ Straßen und Orten klar, dass der Tourismus in dieser Region von essentieller Bedeutung ist. Und das in einer Zeit, in der eigentlich Hauptsaison wäre.
Resilienz bedeutet Krisenfestigkeit und Widerstandsfestigkeit und beschreibt, wie schnell sich ein Unternehmen oder eine Destination nach einem Schock wieder erholt. Die Resilienz einer Destination hängt von mehreren Faktoren ab: etwa von der Beschaffenheit der Gäste, dem Anteil der Stammgäste und der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen.
Resilienz kann jedoch auch eine Art Gradmesser sein, wie Länder und Regionen kritische Situationen meistern. Die Empfehlung der Verbände sowie der Landesregierung zum Shutdown hat das lokale Tourismussystem in eine Situation gebracht, über sich hinauszuwachsen. Das lokale System war nahe genug an den Gästen und Mitarbeitenden. Das wiederum hat anstelle von Wut und Ärger viel eher Solidarität und Loyalität ermöglicht.
Es schaut so aus, als würde diese Krise mitsamt ihren Strukturbrüchen dazu führen, dass das lokale und regionale System gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Dies ist auch Resilienz im Sinne von Zukunftsfähigkeit, jener Fähigkeit, sich inmitten der vielleicht größten Krise dieses Planeten eine Zukunft vorstellen zu können. Resilienz bedeutet aber auch, ein bestimmtes Maß an Lernfähigkeit an den Tag zu legen. In diesen Tagen und Wochen sieht man viel überstürztes Handeln auf nationaler und regionaler Ebene.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass diese Art von Krisen nicht die letzte gewesen sein dürfte. Zumal es sich um eine echte globale Krise handelt, die man allein mit nationalen und regionalen Mitteln, Instrumenten und Politiken nicht wird lösen können. Ein verbindliches globales Monitoring und abgestimmte nationale Politiken würden ein Minimum an globaler Solidarität ermöglichen. Diese würde die Widerstandsfähigkeit auf nationaler und regionaler Ebene ohne Zweifel noch mehr stärken.
Dieser Text erschien erstmals am 16. März 2020 im Corona-Navigator des Kompetenzzentrums Tourismus des Bundes.
Harald Pechlaner ist Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research und wissenschaftlicher Leiter des Kompetenzzentrums Tourismus des Bundes (DE). Als Wirtschaftswissenschaftler leidet er mit den Unternehmen, die innerhalb weniger Tage einen Shutdown hinlegen mussten. Ihn interessiert nun die Frage, wie aus einem Stillstand ein möglichst schnelles “Recovery” entstehen kann und wie Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung in der Wirtschaftswelt stärker verankert werden können. |
Andreas Dibiasi ist Makroökonom am Center for Advanced Studies von Eurac Research. Er ist derzeit im Schichtdienst. Wenn er sich nicht mit den volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise beschäftigt, hütet er seine Kinder. |
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