Sie sind laut und fast überall. 87 unterschiedliche Heuschreckenarten besiedeln Südtirols Wiesen, Wälder, Weinberge, Obstanlagen. Die Fluginsekten sind stark an ihr Habitat gebunden und damit ideale Indikatoren für die Biodiversität eines Lebensraums.
Keine andere Insektengruppe beherrscht ein so großes Gesangsrepertoire wie die Heuschrecken. Im Sommer singen die Männchen, um Weibchen anzulocken, Rivalen zu vertreiben, ihr Territorium abzugrenzen. Ähnlich wie bei den Vögeln hat jede Art ihre eigene Melodie, die sie durch das Scharren der Hinterbeine und der Flügel oder auch mit dem Kauapparat erzeugt. Im August – der Paarungszeit – geht es besonders laut her. Dann begibt sich Andreas Hilpold, Biologe von Eurac Research, auf Heuschreckenjagd für das Biodiversitätsmonitoring Südtirol. Bei der Auswahl der Monitoringfläche, auf 1600 Meter, verlässt er sich zunächst einmal ganz auf sein Gehör. Andreas Hilpold erkennt so gut wie alle 87 Südtiroler Heuschreckenarten an ihrem Gesang. Er fährt kurz mit dem Zeigefinger zum Mund, bittet um Ruhe: „Chrä chrä tschschsch chrä“, tönt es aus der Wiese. Es klingt ein bisschen so, als würde jemand ein Spielzeugauto auf dem Boden aufziehen. „Ha, das ist eine Große Höckerschnecke, eine meiner Favoriten“, Andreas Hilpold grinst. Das olivgrün-gelbe Männchen hat einen roten Bauch und wird bis zu vier Zentimeter lang. Der Biologe mag die Große Höckerschnecke deshalb so, weil sie sich immer besonders schöne Lebensräume aussucht, wie die üppig blühende Magerwiese im Rojental am Reschen, die Hilpold gerade abzustecken beginnt: Mit einem Maßband markiert er eine Fläche von 10 x 10 Metern. Für die Erhebung greift er zum Fangnetz – Kescher für den Experten – einen Stift und seinen Notizblock. Hier draußen verzichtet er gerne auf Technologie. Systematisch keschert er den Boden ab, notiert Name und Anzahl der Fluginsekten, und ob sie adult oder juvenil sind, also erwachsen oder noch jung.
An einem Tag schafft ein zweiköpfiges Team rund fünf Flächen. Aufs Jahr gerechnet rund 64. Das sind seit Beginn des Biodiversitätsmonitoring Südtirol 320 Flächen auf ganz Südtirol verteilt. Erhoben werden aber nicht nur Insekten – die Heuschreckenerhebung dauert zwei Wochen – sondern auch Säugetiere, Vögel, Pflanzen. In ganz Europa gibt es Projekte zum Biodiversitätsmonitoring. Die Schweiz ist europaweit Vorreiter und verfügt seit 2001 über das wohl kompletteste Biodiversitätsmonitoring. Österreich hat ebenfalls ein landesweites Biodiversitätsmonitoring-Projekt auf die Beine gestellt: Zusätzlich zu einem Expertenmonitoring können alle über eine Schmetterlings-App an den Erhebungen teilnehmen. Südtirol verfolgt seit fast fünf Jahren eines der ambitioniertesten Monitoring-Projekte, das sich auf mehrere Tier- und Pflanzenarten ausdehnt, von der Talsohle bis auf die Berggipfel, inklusive Gewässer.
„Die Fluginsekten sind laut und zahlreich und damit leicht zu erheben. Und sie besiedeln alle Lebensräume – die Wiesen, Wälder, Weinberge, Obstanlagen.“
Andreas Hilpold
Auf einige Artengruppen wird ein genauerer Blick geworfen, dazu gehören die Heuschrecken. Dafür gäbe es gleich mehrere Gründet, erklärt Hilpold. „Die Fluginsekten sind laut und zahlreich und damit leicht zu erheben – wenn die Wettervoraussetzungen passen. Und sie besiedeln alle Lebensräume – die Wiesen, Wälder, Weinberge, Obstanlagen.“ Auf 2.800 Metern über dem Meeresspiegel hat Hilpold auch schon vereinzelte Insekten hüpfen sehen. Nach oben wird ihr Lebensraum von der Vegetationsgrenze eingeschränkt. Heuschrecken sind Pflanzenfresser, ernähren sich von Gräsern und Blättern. Einige sind Allesfresser. Auf ihrem Speiseplan stehen auch Insektenlarven und kleine Raupen. Das Große Heupferd – eine grasgrüne Heuschrecke – frisst Blattläuse, ist also ein Nützling. Die unterschiedlichen Heuschreckenarten sind stark an ihr Habitat gebunden, sagen also viel über die Qualität eines Lebensraums aus. In der Rojener Magerwiese findet Hilpold bis zu zehn Arten. In Weinbergen sind es meist um die drei. In Obstanlagen oft nur eine, wenn überhaupt. Je intensiver eine Fläche genutzt wird, desto leiser wird es. Heuschrecken sind ideale Indikatoren für die Biodiversität eines Lebensraums.
Außerdem bilden Heuschrecken im alpinen Raum die größte Biomasse wirbelloser Tiere auf der Bodenoberfläche. Damit sind sie ein wichtiges Glied in der Nahrungskette für Vögel und kleine Nagetiere wie Spitzmäuse, Maulwürfe, aber auch Marder, Füchse und Wildschweine ernähren sich von ihnen, so Hilpold. Gemeinsam mit vielen anderen Insekten sind sie also unentbehrlich für das Funktionieren von Ökosystemen, die europaweit gefährdet sind.
Denn die Biodiversität nimmt ab, vor allem bei den Insekten. Bereits im Oktober 2017 veröffentlichten Wissenschaftler aus Krefeld eine Studie zum Insektensterben in Deutschland: In nur drei Jahrzehnten ist der Bestand an Insekten um über 75 Prozent zurückgegangen. Das ist nicht nur schlimm für Vögel und eine Reihe von Säugetieren, sondern auch für uns Menschen. 90 Prozent aller Pflanzen – landwirtschaftliche Nutzpflanzen eingenommen – sind auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. Edward Wilson, der 2021 verstorbene amerikanische Biodiversitätspapst, hatte dazu eine Rechnung angestellt: Wenn alle Insekten und Gliedertiere aussterben würden, dann würde das unsere Umwelt ins Chaos stürzen und auch den Menschen auslöschen. Andreas Hilpold ist kein Freund solcher Horrorszenarien. Es sei zwar nicht gut um die Biodiversität bestellt, meint er, aber man müsse nicht immer gleich den Untergang der Menschheit heraufbeschwören, um die Natur zu retten. „Für mich ist es ein intrinsischer Nutzen, Biodiversität zu schützen. Es ist Teil meiner DNA.“ Und um die Biodiversität in Südtirol sei es zwar vielerorts nicht gut bestellt, aber immerhin gäbe es noch zahlreiche Landschaften und Lebensräume mit einer sehr hohen Biodiversität. Hilpold zieht den Kescher hoch und darin wuzelt und surrt es. Seit Beginn der Biodiversitätserhebungen in Südtirol sind Hilpold und sein Team auch auf einige Neulinge gestoßen: drei neue Heuschreckenarten, die Rotköpfige Grillwanze – ein Nützling, der Blattläuse vertilgt –, den Riesenabendsegler – eine Fledermausart, das Krummblättrige Tagmoos sind einige davon. Ob sie neu in Südtirol sind, oder bislang einfach nur übersehen wurden, weil sie in vorher kaum erforschten Gebieten wie etwa Altrei entdeckt wurden (zwei der neuen Heuschreckenarten), werden Erhebungen in den nächsten Jahren zeigen. Ab 2024 werden die Forscherinnen und Forscher die 320 Flächen ein zweites Mal erheben. Dann gibt es die ersten Zeitreihen als Vergleich. Schon jetzt scheine sich aber eine Tendenz abzuzeichnen, meint Hilpold: Wärmeliebende Heuschrecken breiten sich aus; etwa die kleine Knarrschrecke, die im mediterranen Raum heimisch ist. „Es kann gut sein, dass sie der Klimawandel in nördlichere Regionen getragen hat. Und wenn ich meiner subjektiven Wahrnehmung trauen kann, dann hat sich in den letzten Jahren auch die Lauchschrecke in Südtirol sehr stark ausgebreitet. Sie bevorzugt ebenfalls wärmere Temperaturen.“
Bleibt noch eine Frage: Wenn es um die Biodiversität - zumindest in Teilen des Landes - nicht so schlecht bestellt ist, warum braucht es dann so ein Monitoring-Projekt für Südtirol? „Gebiete mit hoher Vielfalt sind aus globaler Sicht besonders interessant, und ein Monitoring ist eine Art Frühwarnsystem, damit wir sicherstellen können, dass wir unserer Verantwortung für den Erhalt dieser Vielfalt auch in Zukunft gerecht werden können,“ erklärt Hilpold. Die hier erhobenen Daten bilden Grundlagen für Naturschutz-, Landschafts- und Siedlungspolitik. Das Team Biodiversitätsmonitoring Südtirol arbeiten auch eng mit den Biobauern zusammen. Die erhobenen Daten fließen in die Landesdatenbank des Naturmuseums ein und sind für alle zugänglich. Daten zum Klimawandel, den die Südtirolerinnen und Südtiroler neulich wieder in einer Umfrage als eine der größten Gefahren für die Zukunft genannt haben, werden schon seit Jahrhunderten gesammelt. Systematisch erhobene Daten zur Biodiversität erst seit wenigen Jahrzehnten. Dabei sei die Biodiversitätskrise mindestens genauso gefährlich wie der Klimawandel, meint Hilpold. Der Aufwand im Biodiversitätsmonitoring sei groß. Lohne sich aber. Zwei positive Entwicklungen möchte Hilpold noch erwähnt haben: Mit dem Artensterben ist weltweit auch ein Taxonomen-Sterben einhergegangen. Mit den erstarkten weltweiten Bemühungen, die Biodiversitätskrise zu stoppen, und, damit einhergehend, mit den gerade gestarteten Monitoringprogrammen, werden sie wieder geschätzt: Spezialistinnen und Spezialisten wie er, die Tiere und Pflanzen bestimmen können. Und vor kurzem hat die EU eine Verordnung zur Wiederherstellung von Naturräumen in Europa erlassen: Bis 2030 müssen mindestens 20 Prozent der Landflächen und 20 Prozent der Meeresgebiete renaturiert werden. Das Biodiversitätsmonitoring wird wertvolle Daten liefern, ob solche und ähnliche Initiativen erfolgreich sind. Man darf sich auf laute Heuschrecken-Chöre freuen.