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Stolz und Vorurteil sui generis

Gespräche zwischen Disziplinen: Warum erhitzt das Thema Geschlechtsidentität die Gemüter?

Annelie Bortolotti
© Eurac Research | Annelie Bortolotti
by Valentina Bergonzi, Sigrid Hechensteiner

Die Sozialjuristin Alexandra Tomaselli und die beiden Politikwissenschaftlerinnen Katharina Crepaz und Mirjam Gruber sind Sprecherinnen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Eurac Research, die sich mit der Erforschung von Geschlechterdynamik befasst. Wir haben mit den dreien gesprochen: über die wichtigsten Etappen der Gay Pride, die Themen Intersektionalität und Pink Washing, und was sie mit ihrer Arbeitsgruppe noch so alles vorhaben.

„Stolz“ ist ein Begriff, den sich die populistische und nationalistische Rhetorik häufig zu Nutze macht. War man sich dessen bewusst als sich der Begriff Gay Pride durchsetzte?

Alexandra Tomaselli: Der erste Protestmarsch, am 28. Juni 1970, war der “Christopher Street Liberation Day March”. Verschiedenen Quellen zufolge hatte der Aktivist Craig Schoonmaker zusammen mit anderen die Bezeichnung „Gay Power“ vorgeschlagen. Da aber nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Bevölkerung tatsächlich an der Macht ist, entschieden sie sich für „Gay Pride“. Man wollte dem negativ konnotierten Begriff „Gay“ eine neue, positive Bedeutung geben, etwas, worauf man stolz sein kann.

© The LGBT Community Center National History Archive | Leonard Fink

Mirjam Gruber: In jüngster Zeit haben Bewegungen gegen sexuelle Diskriminierung explizit die populistische Rhetorik des Stolzes aufgegriffen und deren Botschaft ins Gegenteil gekehrt. Im Juni 2020 nutzten sie etwa das Hashtag #ProudBoys - ein Begriff, der von der gleichnamigen Gruppe weißer Rassisten in den USA geprägt wurde, um Hassreden zu verbreiten - um die sozialen Medien mit Fotos von schwulen Paaren, die sich küssen, und lustigen Memes für Gleichberechtigung zu fluten.

Die Anfänge


In der Nacht von Freitag, den 27., auf Samstag, den 28. Juni 1969, führte die Polizei eine Razzia im Stonewall Inn durch, einer Schwulenbar im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Es kam zu Unruhen und Protesten, die mehrere Tage andauerten und als Beginn aller nachfolgenden weltweiten öffentlichen Initiativen für die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Transpersonen gelten: Gay Pride, Pride Day, Pride Month usw.
Zu den wichtigsten Veranstaltungen zählen: der Pride Day am 28. Juni und der Tag gegen Homo-, Lesben- und Bi-Transphobie am 17. Mai.

Von den ersten Aufmärschen für die Rechte von Homosexuellen bis hin zu den LGBTIAQ+ Bewegungen: Wann und warum hat sich das Akronym erweitert und wofür steht das +?

Tomaselli: Das Akronym steht für lesbisch, gay, bisexuell, transgender, intersexuell, asexuell, queer, und wurde um immer mehr Kategorien erweitert. Das + am Ende weist darauf hin, dass es auch andere geschlechtliche Identitäten geben kann, die noch keinen Namen haben oder keinen Namen haben wollen, die aber genauso ein Recht auf Existenz haben. Allerdings muss man auch hervorheben, dass es verschiedene Asymmetrien innerhalb der Bewegung gibt. Einige Minderheiten, wie Transgender oder asexuelle Menschen, beklagen häufig, von der Gemeinschaft ausgegrenzt zu werden.
Katharina Crepaz: Ein klares Indiz dafür ist die Tatsache, dass das T für Transgender erst in den 1990er Jahren hinzugefügt wurde, obwohl Transgender-Menschen von Anfang an sehr aktiv an den Protesten beteiligt waren. Auch innerhalb einer Bewegung, die für Inklusion kämpft, gibt es besonders marginalisierte Gruppen, die gesellschaftliche Ablehnung in noch höherem Ausmaß erfahren.

“Das Prinzip der Intersektionalität besteht darin, sich mit anderen Anliegen zu solidarisieren, um die Ressourcen gegen soziale Ungerechtigkeit zu bündeln.”

Katharina Crepaz

Welche Beziehungen gibt es zu anderen Bewegungen, die sich für den Schutz von Benachteiligten einsetzen, wie etwa Black Lives Matter?

Crepaz: Es gibt Bewegungen, die sich für eine Sache so radikalisieren, dass sie andere ausgrenzen, beispielsweise die TERF-Bewegung (Trans-Exclusionary Radical Feminism). Diese extreme Form des Feminismus erkennt Transgender-Frauen nicht an. Vor allem ältere Feministinnen aus der Zweiten Welle der Frauenbewegung gehören dieser Gruppe an. In den meisten Fällen funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den marginalisierten Gruppen, etwa mit Black Lives Matter. In der Vierten Welle der Frauenbewegung (siehe Kasten) wird sie sogar als wichtiges Ziel formuliert, um den Forderungen nach Gleichstellung mehr Gewicht zu geben.
Gruber: In den Vereinigten Staaten hat die Kooperation zwischen verschiedenen Bewegungen etwa zur Initiative „Say Her Name“ geführt. Diese zielt darauf ab, eine doppelt benachteiligte Gruppe - nämlich Schwarze Frauen - vor Polizeigewalt zu schützen. Das Prinzip der Intersektionalität besteht darin, sich mit anderen Anliegen zu solidarisieren, um die Ressourcen gegen soziale Ungerechtigkeit zu bündeln.

Die vier Wellen der Frauenbewegung und die Intersektionalität


    1. Zwischen dem Ende des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Forderungen: Zugang zu höherer Bildung, Wahlrecht.
    1. 1960er und 1970er Jahre. Forderungen: Recht auf körperliche Selbstbestimmung, aktives Mitspracherecht in der Politik, uneingeschränkter Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten. Slogan: Das Private ist politisch.
    1. 1990er Jahre. Internationalisierung der Bewegung mit der Aufnahme von Forderungen aus dem Globalen Süden. 1989 definiert die afroamerikanische feministische Juristin Kimberlé Crenshaw das Konzept der „Intersektionalität“: Im Mittelpunkt stehen diejenigen, die unterschiedliche Diversitätsdimensionen in sich vereinen (z.B. Geschlecht oder sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Behinderung, unterschiedliche Religionszugehörigkeit, Armut usw.) und somit auch potentiell vielfältigen Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind.
    1. Seit 2012. Weitere Internationalisierung durch soziale Medien. Forderungen: Selbstbestimmung des Körpers und der sexuellen Orientierung, gegen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch, gegen Homophobie und Transphobie. Slogans: #MeToo, #NichtEineWeniger, #EineVonUns

Wut und Dialog. Wie werden sie im Aktivismus dosiert?

Gruber: Beide sind grundlegende Elemente, um Bewegungen voranzubringen. Allerdings haben sie je nach Kontext ein anderes Gewicht. Black Lives Matter hat in den USA einen ganz anderen Stellenwert als in Europa, und dasselbe gilt für Länder, in denen diejenigen, die für ihre Rechte protestieren, ihr Leben riskieren.
Crepaz: Im Westen haben sich LGBT- und feministische Bewegungen weitgehend auf den Dialog gestützt, auch wenn die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und die dadurch ausgelöste Wut ein wichtiger Motor für soziale Bewegungen sind. Ich finde es nachvollziehbar, dass man mit bestimmten Personen nicht mehr reden will, wenn einem Einschränkungen auferlegt werden, was den eigenen Körper oder die Liebe zu einer anderen Person betrifft.

“Beim Pink Washing handelt es sich um eine Marketingstrategie, bei der sich Unternehmen oder Dienstleister mit der LGBTIAQ+ Gemeinschaft identifizieren - etwa durch das Aushängen der Regenbogenflagge, Abbildung des Logos während des Pride Month usw. – um ihren Kundenstock zu erweitern”

Alexandra Tomaselli

Tomaselli: In der LGBTIAQ+ Community hat immer eine ausgelassene und lebensbejahende Haltung vorgeherrscht. In letzter Zeit ist man sich jedoch etwas uneins. Die einen befürworten beispielsweise das Pink Washing, weil es mehr Sichtbarkeit gibt. Beim Pink Washing handelt es sich um eine Marketingstrategie, bei der sich Unternehmen oder Dienstleister mit der LGBTIAQ+ Gemeinschaft identifizieren - etwa durch das Aushängen der Regenbogenflagge, Abbildung des Logos während des Pride Month usw. – um ihren Kundenstock zu erweitern. So gewährt beispielsweise eine bekannte spanische Fluggesellschaft im Juni Rabatte für diejenigen, die sich als LGBT outen. Die anderen würden gerne zurück zum Ursprung, zu den Märschen in den 1970er Jahren, um jenen zu gedenken, die von der Polizei schikaniert wurden, als sie protestierten.

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Dolomiti Pride, Trentino-Südtirol, Juni 2023© Dolomiti Pride
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© Dolomiti Pride
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© Dolomiti Pride

“Die junge Generation mobilisiert sich oft schneller als alle anderen Altersgruppen.”

Mirjam Gruber

Im Westen geht die jüngere Generation gelassen mit Themen wie Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung um. Sie scheint offen und integrativ, oder ist Gender auch eine Modeerscheinung?

Gruber: Ich habe schon den Eindruck, dass sich viele Menschen heute mehr für die Rechte der LGBTIAQ+ Community stark machen als sie es noch vor 15 Jahren getan haben. Die junge Generation mobilisiert sich aber oft schneller als alle anderen Altersgruppen. Als Modeerscheinung würde ich das Thema Gender aber nicht bezeichnen, sondern es ist ein essenzieller Bestandteil hin zu einer inklusiven und gerechten Gesellschaft, denn die Gleichstellung aller Menschen ist immer eine Win-Win-Situation. Erreicht haben wir sie – zumindest was die sexuelle Orientierung betrifft - wenn die LGBTIAQ+ Bewegung obsolet wird.
Tomaselli: Vielleicht betreffen uns Ausgrenzungen wie Behinderung, Alter oder Armut nicht persönlich, und wir können sie ignorieren, aber jeder von uns hat ein Geschlecht. Und selbst ich als Cis-Frau (eine Person, bei der sowohl das biologische Geschlecht als auch die Geschlechtsidentität weiblich sind, Anm.d.R.) muss mich jeden Tag mit meiner Geschlechtsidentität auseinandersetzen, wenn ich einkaufen gehe, eine Friseurin besuche oder in einem Büro ein Formular ausfülle. Das Geschlecht ist wirklich für jeden ein Thema.
Crepaz: Die Vorstellung, dass immer mehr Menschen homosexuell werden oder ihre Identität als Folge der LGBTIAQ+ Bewegungen in Frage stellen, ist eine Interpretation, die oft von der Rechten vertreten wird. Die Realität ist anders. Ich ziehe gerne eine Parallele zu dem, was mit Linkshänder*innen geschehen ist. Als sie nicht mehr auf die rechte Hand umgeschult wurden und endlich mit links schreiben und arbeiten konnten, stieg die Zahl der Linkshänder*innen sprunghaft an. Das lag natürlich nicht daran, dass kleine Mädchen und Jungen, die die rechte Hand bevorzugten, anfingen, die linke Hand zu benutzen, sondern einfach daran, dass durch das Wegfallen der Stigmatisierung alle, die sich endlich legitimiert fühlten, so zu sein, wie sie sind, an die Öffentlichkeit treten konnten. Es ist eine Frage der Sichtbarkeit.

Ein Gender-Report für Südtirol


Im März 2022 stellten einige Forscherinnen in einem informellen E-Mail-Austausch fest, dass Eurac Research eine ganze Reihe von Studien durchführt, die sich multi-, trans- und interdisziplinär mit dem Thema Geschlechterdynamik befassen: von der Linguistik über Hass und Gewalt im Internet, die politische Partizipation von Frauen, die Kluft zwischen den Geschlechtern am Arbeitsplatz bis hin zur Energiearmut. Mit der Zeit hat sich der Kreis auf rund vierzig Forscherinnen und Forscher erweitert. Zurzeit erarbeitet das interdisziplinäre Team einen Gender-Report für Südtirol.
Ziel ist einerseits die Vernetzung und Konsolidierung bestehender Initiativen, die nicht nur von Eurac Research, sondern auch vom Rat für Chancengleichheit, von Gemeinden (die Gemeinde Meran hat den ersten Aktionsplan für die Gleichstellung in ganz Italien auf den Weg gebracht, von Zentren zur Bekämpfung von Gewalt, von Universitäten und verschiedenen NROs gefördert werden. Andererseits möchte die Gruppe das Bewusstsein für das Thema schärfen, insbesondere bei Männern, die nicht weniger als Frauen mit einschränkenden Stereotypen wie dem Versorgermythos oder dem Machismo und den Männlichkeitserwartungen zu kämpfen haben.

Katharina Crepaz

Katharina Crepaz, Politik- und Gesundheitswissenschaftlerin. Neben ihrer Forschungstätigkeit zu Minderheiten und Intersektionalität bei Eurac Research lehrt sie an der Technischen Universität München in den Bereichen Gender, Diversity und Gesundheitswissenschaften.

Mirjam Gruber

Mirjam Gruber, Politikwissenschaftlerin. Sie widmet sich seit einigen Jahren der Forschung zu Diskursen rund um die Klimakrise, wobei sie immer wieder mit Gender-Aspekten konfrontiert wird.

Alexandra Tomaselli

Alexandra Tomaselli, Sozialjuristin. Nachdem sie sich viele Jahre lang mit den Rechten von Minderheiten und indigenen Völkern beschäftigt hat, arbeitet sie seit einigen Jahren an der Schnittstelle von Geschlechtervielfalt und sozialer Ungleichheit.

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