Es ist Dezember 2019, als Ärzte in der Elf-Millionen-Stadt Wuhan erstmals auf eine verdächtige Häufung von Lungeninfektionen aufmerksam werden. Acht vor Ort tätige Ärzte, darunter auch Li Wenliang (34), der kaum zwei Monate später, am 7. Februar 2020, selbst am Coronavirus sterben wird, vermuten als Ursache ein neuartiges Virus und machten in einer WeChat-Gruppe darauf aufmerksam. Die Gesundheitskommission der Stadt Wuhan versucht diese Nachricht zunächst als Falschinformation zu verbieten. Angesichts der zunehmenden Anzahl der Erkrankten wird eine Reaktion jedoch unvermeidlich. Schließlich wurde Chinas renommiertester Epidemiologe und Lungenarzt, der 83-jährige Zhong Nanshan nach Peking berufen. Zhong hatte bereits durch die Entdeckung und Bekämpfung des Sars-Virus im Jahr 2003 Ansehen erlangt.
Am 20. Januar stellte er fest, dass das neuartige Coronavirus mit Sicherheit von Mensch zu Mensch übertragen wird. Viele Medien berichteten unmittelbar über diese Erkenntnis. Auch die chinesische Zentralregierung unter Xi Jinping erkannte wohl spätestens dann den Ernst der Lage und entschied sich, inmitten der Neujahrsreisezeit zu handeln: am 23. Januar, nur zwei Tage vor dem chinesischen Neujahrsfest, wurden drastische Maßnahmen gesetzt. Unter anderem wurde die Megastadt Wuhan komplett unter Quarantäne gestellt, und das, wie wir heute rückblickend wissen, für ganze 76 Tage. Die restliche Welt staunte, fühlte sich dabei aber noch kaum betroffen.
Zwei Monate später wiederholte sich dasselbe Szenario in Italien, ausgerechnet am anderen Ende der von China 2013 wieder ins Leben gerufenen „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative). In Italien sind nun im Vergleich zu China mehr Menschen am neuartigen Coronavirus erkrankt und verstorben. Der WHO Situation Reports berichtet am 14. April von 159.516 infizierten Menschen und 20.465 Toten in Italien, während die Zahlen in China bei 83.696 Infizierten und 3.351 Todesfällen stagnierten. China scheint, was den Kampf gegen das Coronavirus betrifft, allen Ländern weit voraus zu sein.
Auf den Hilferuf der italienischen Regierung reagiert China prompt. Mit 31 Tonnen medizinischer Ausrüstung, darunter Schutzmasken und -kleidung, Beatmungsgeräte und Test-Kits, landete am 12. März eine Sondermaschine der China Eastern Airline in Rom. Kaum eine Woche später, am 18. März, landete eine zweite Maschine in Mailand. Mit an Bord sind 16 erfahrene Medizinerinnen und Mediziner aus China. Am 25. März kommen weitere 14 Ärzte am Mailänder Flughafen an. China kündigte an, Italien beim Aufbau eines mobilen Krankhauses zu helfen. Dafür wird China weitere 50 Ärztinnen und Ärzte, 80 Pflegekräfte und 30 Techniker als Unterstützung nach Italien senden.
Angesichts des globalen Ausmaßes der Pandemie, handelt es sich dabei aus chinesischer Sicht um humanitäre Solidarität nach dem Prinzip 量力而行、尽力而为 – im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln und sein Bestes zu tun. China selbst scheint das Schlimmste gerade überwunden zu haben und kann daher besonders gut nachempfinden, in welcher Notlage Italien sich aktuell befindet, wie Sun Shuopeng, der Vizepräsident des chinesischen Roten Kreuzes betont. Die Hilfsleistungen können auch als Ausdruck der Dankbarkeit und Sympathie Chinas (投桃报李) gegenüber der italienischen Solidarität nach der Erdbebenkatastrophe in Sichuan vor zwölf Jahren, und der Hilfsbereitschaft Italiens zu Beginn der Coronapandemie in China gewertet werden, als Italien 40.000 Schutzmasken nach Wuhan sandte.
Chinesische Medien berichten aber auch über kritische Stimmen aus Italien, wie etwa von Giuseppe Pennisi, der die Hilfsaktionen Chinas als trojanisches Pferd bezeichnete. Das chinesische Volk reagiert darauf sowohl empört als auch verletzt. Im Kampf gegen Corona verfüge China über die größte Erfahrung und wolle Italien, dem von Corona am schwersten betroffenen europäischen Land, helfen. Chinesische Expertinnen und Experten stellten fest, dass sich viele Fehler, die in der Stadt Wuhan gemacht wurden, in Italien wiederholten. Chinesische Medien sind überwiegend der Meinung, dass Corona sich zu einer globalen Krise entwickle und keine Nationalität kenne. Die aktuell rasante steigende Zahl der Infizierten im Ausland mache den Chinesen klar, dass kein Land sicher bleibe, solange Corona nicht weltweit unter Kontrolle gebracht werde, so die meisten chinesischen Experten. In diesem Sinne bedeute die Hilfe für Andere gleichzeitig auch Selbsthilfe.
Italienische Medien berichten in unterschiedlicher Form von der Zusammenarbeit zwischen China und Italien in der aktuellen Krise. „Niente Usa, niente Unione europea, avanti la Cina. Che non ci risolverà la crisi e che approfitta di questi eventi per migliorare la propria immagine e ingaggiare con decisione la battaglia egemonica con l’Occidente. Ma intanto ci aiuta“: Eine deutliche Ansage, die in Italien durchaus breite Akzeptanz findet. China ist es wohl gelungen, in einer für Italien dramatischen Situation schnell zu handeln und das Solidaritätsvakuum schneller auszufüllen als die EU beziehungsweise die europäischen Mitgliedsländer oder die USA, wobei der EU oder den USA teilweise sogar vorgeworfen wird, Hindernisse zur Bewältigung der Krise in den Weg zu legen. Flankiert von einer ausführlichen Berichterstattung in Italien zu den Hilfslieferungen aus China wird die gegenseitige Solidarität gar betont: “L’Italia è sempre stato un Paese donante, non è di solito un Paese ricevente. E questa è una delle cose più significative e belle di questa donazione”. Francesco Rocca, Präsident des Italienischen Roten Kreuzes, unterstreicht, dass Italien nicht traditionell ein Empfängerland von Hilfslieferungen sei, aber gerade deshalb der Wert der Unterstützung durch China nicht hoch genug eingeschätzt werden könne.
Es wird jedoch auch betont, dass das chinesische Engagement nicht auf purer Solidarität allein beruhe. Dargelegt wird dies einerseits beispielhaft in der Kirchenzeitung Famiglia Cristiana: „La solidarietà cinese è importante, ma non sarà gratuita“ oder ebenso deutlich am Beispiel der politischen Analyse der italienischen Zeitschrift für Geopolitik Limes: „Pechino offre sostegno a Roma per rinvigorire i loro rapporti a un anno dalla sua adesione alle nuove vie della seta. Oltre le mascherine: il piano di Huawei per il digitale della sanità nostrana è un’incognita securitaria“.
Es wird in diesen Stellungnahmen klar, dass China wohl nicht ausschließlich selbstlos handelt. Sein Engagement ist vielmehr als Teil einer Strategie zu sehen, welches zum einen darauf ausgerichtet ist, den Schwarzen Peter des Verursachers der globalen Pandemie zumindest imagemäßig loszuwerden, beziehungsweise davon abzulenken. Zum anderen geht es aber auch darum, die vor rund einem Jahr vereinbarten Ziele der Zusammenarbeit im Rahmen der chinesischen Seidenstraßeninitiative „One Belt One Road“ mit Italien neu zu beleben. Im Speziellen findet man auch Hinweise darauf, dass die Hilfestellungen im Gesundheitsbereich Hand in Hand mit technologischen Kooperationen, etwa im Bereich 5G gehen, wie Giorgio Cuscito in Limes schreibt: „Allo stesso tempo, le aziende cinesi Huawei e Zte sono impegnate nello sviluppo della rete 5G sul suolo italiano“. Die “Seidenstraße der Gesundheit” als Leverage des chinesischen Technologieexports? Dabei geht es längst nicht nur um die technologischen Möglichkeiten der Eindämmung der Pandemie: „Wer hat sich brav an die Quarantäne-Vorschriften gehalten? Wer ist rechtschaffen? Wo wohnt der nächste Infizierte, den ich geschickt meiden sollte? Das zeigen Apps an“. Es gehe vielmehr darum, die Technologieführerschaft global auszubauen. 5G-Netzwerke, Datenzentren oder intelligente Städte stehen auf der Liste der zu beschleunigenden Entwicklung von Infrastrukturen.
Und wieder der Blick auf und aus China: Es ist ungewohnt für Italien, dass China mit modernen Ausrüstungen zu Hilfe eilt, wo Europa und die USA Solidarität vermissen lassen. Obwohl China einspringt, herrscht in Europa ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dieser „Maskendiplomatie“ des chinesischen Regimes.
Der Faktor Zeit spielt gerade bei der Coronavirus-Krise eine große Rolle, wurde den meisten betroffenen Ländern meist erst kurzfristig der Ernst der Lage klar. Das traditionelle europäische Narrativ der Solidarität wurde durch das offenbar zögerliche Anlaufen eines grenzüberschreitenden Kampfes gegen das Coronavirus durch die Europäische Union auf eine harte Probe gestellt. „Das zweite Versagen der EU liegt darin, dass sie erschreckend lange nicht politisch und kommunikativ auf die großangelegte propagandistische Verwertung der alles andere als selbstlosen Hilfsaktionen Pekings und Moskaus reagiert hat“. Gleichzeitig liegen aber auch Berichte vor, nachdem die EU-Institutionen in Brüssel sehr wohl und frühzeitig eine gemeinsame Strategie vorgeschlagen haben, die von den Mitgliedsstaaten jedoch ausgeschlagen wurde.
Mit zunehmend entspannter Lage im Land sind nun in China viele freie Kapazitäten verfügbar. China wird seine Unterstützung global ausweiten. Neben bereits versprochener oder getätigter Hilfe in Italien, Spanien, Belgien, Deutschland, Iran, Irak, Pakistan, Serbien, UK oder in den USA, sagt China fast jeden Tag weitere Hilfsmaßnahmen zu. Bis zum 26. März hat die Volksrepublik ihre Hilfe auf 89 Länder über alle Kontinente ausgeweitet. „China schickt Masken, Ärzte und Krankenhauspersonal nach Italien und in viele andere Länder – und macht nebenbei ein bisschen Werbung für die Seidenstraße“, schreibt etwa die Zeit. Es wird auch nicht überraschend sein, sollte es nach der Pandemie zu einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen diesen Ländern und China kommen. Die “Seidenstraße der Gesundheit” könnte ein unerwartetes Kapitel der gesamten Belt and Road Initiative werden.
Es ist nicht ausschließlich so, dass China sich aufdrängt, denn viele Länder und sogar Landkreise und Regionen haben China um Hilfe gebeten. Internationale Hilfe anzunehmen ist zuallererst Kennzeichen einer funktionierenden globalen Solidarität. Es wird allerdings vor allem in Europa entscheidend sein, ein bestimmtes Maß an Einigkeit an den Tag zu legen. Einmal, um Solidarität nach innen auszustrahlen und andererseits, um bei der möglichst gemeinsamen Krisenbewältigung nicht Gefahr zu laufen, in die Abhängigkeit von möglichen trojanischen Pferden zu gelangen, und damit viel strategischen Handlungsspielraum zu verlieren.
Wei Manske-Wang wurde in Shanghai geboren, überstand fast unbeschadet den kommunistischen „Bildungsdrill“ und schloss nach elterlicher Empfehlung ein Germanistikstudium in China ab. In Deutschland studierte sie auf eigenen Wunsch hin BWL und VWL und arbeitet seit 14 Jahren für die Internationalisierung eines „Hidden Champions“ in Bayern. Das Coronavirus zeigt ihr, wie vernetzt unsere Wirtschaft ist und wie wichtig Vertrauen für die Welt ist. |
Harald Pechlaner ist Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research und Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (DE), wo er auch ein Zentrum für Entrepreneurship leitet. Er hat zwei Tagungen zur „Neuen Seidenstraße“ mitorganisiert und beschäftigt sich mit Fragen des Leaderships. Ihn interessiert momentan die Frage, wie aus einem Stillstand ein möglichst schnelles “Recovery” entstehen kann und wie Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung in der Wirtschaftswelt stärker verankert werden können. |
Weitere Literatur:
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