Am 14. Februar 2021 hat in Katalonien die Wahl für die Erneuerung des Regionalparlamentes stattgefunden. Zusammen haben die drei Unabhängigkeitsparteien die Mehrheit der Sitze erreicht, am meisten Stimmen erhielt jedoch die Sozialistische Partei, die gegen die Sezession ist. Francisco Javier Romero Caro, Jurist am Institut für Vergleichende Föderalismusforschung von Eurac Research, kommentiert den Wahlausgang.
Wie ist Spanien territorial organisiert?
Romero Caro: Spanien ist in 17 autonome Gemeinschaften unterteilt, dazu kommen zwei autonome Städte in Nordafrika. Alle autonomen Gemeinschaften haben gesetzgebende Befugnisse und genießen Autonomie in verschiedenen Bereichen. Zwei dieser Gemeinschaften - das Baskenland und Navarra - haben ebenfalls eine besondere Steuerregelung, die in der Verfassung verankert und mit historischen Vorrechten verbunden ist. Grundsätzlich haben die autonomen Gemeinschaften die gleichen Kompetenzen, mit einigen Unterschieden, die mit den spezifischen Eigenschaften der jeweiligen Gemeinschaft zusammenhängen. So haben beispielsweise Galicien, das Baskenland, Navarra, Katalonien, Valencia und die Balearen eine eigene Sprache und somit auch sprachliche Zuständigkeiten. In der Vergangenheit war der steuerliche Status des Baskenlandes und Navarras ein Modell, nach dem auch Katalonien strebte. Die damalige Mehrheitspartei zielte auf eine Einigung mit Madrid, aber die Zentralregierung lehnte sie ab: zum einen, weil sie Gegenreaktionen im ganzen Land ausgelöst hätte, zum anderen aber auch, weil Katalonien damals die reichste und zweitbevölkerungsreichste Region Spaniens war. Die Gewährung einer steuerlichen Sonderbehandlung hätte das ganze System zum Einsturz gebracht.
Bei der Wahl am 14. Februar ging die Mehrheit der Sitze an drei Unabhängigkeitsparteien. Was zeichnet sie aus?
Romero Caro: Es sind Parteien, die alle das Ziel der Sezession verfolgen, aber sonst sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Die Partei, die unter den Unabhängigkeitsparteien die meisten Stimmen erhalten hat, ist die Esquerra Republicana de Catalunya (ERC): Sie steht am weitesten links und gilt als progressiv. Dann gibt es noch Junts per Catalunya (JxCat), die Partei des ehemaligen Präsidenten Puigdemont, der nach Belgien geflohen ist. Sie entstand als Mitte-Rechts-Partei, hat sich aber zu einer vorwiegend populistischen Partei entwickelt. Die dritte Partei ist die Candidatura d'Unitat Popular (CUP), eine antikapitalistische Partei der äußersten Linken. CUP hat vielleicht Gemeinsamkeiten mit Esquerra, aber sicher nicht mit Junts, obwohl sie wie Junts den unilateralen Weg in Richtung Sezession geht, während Esquerra es vorziehen würde, zumindest anfangs mit Madrid zu verhandeln.
Zu dieser Komplexität kommt noch dazu, dass die Sozialistische Partei, die die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, eine unionistische Partei ist…
Romero Caro: Ja, die Sozialistische Partei hat 23 Prozent der Stimmen erhalten. Ideologisch gesehen wäre es sinnvoll, wenn sie mit Esquerra eine Koalition bilden würde. Dies würde auch dazu beitragen, die Gegensätze zwischen den beiden Blöcken für und gegen die Sezession aufzubrechen. Es scheint aber schwierig, weil sich alle Kandidaten der Unabhängigkeitsparteien dazu verpflichtet haben, keine Koalitionen mit den Sozialisten einzugehen. Die Lage ist komplex, weil Esquerra auf nationaler Ebene die Regierungskoalition von außen unterstützt. Tut sie das weiterhin, wird es zu Reibungen innerhalb der katalanischen Koalition kommen.
Es scheint, als würde sich in der katalanischen Politik alles um das Thema Unabhängigkeit drehen...
Romero Caro: Seit 2012 wird die Politik in Katalonien von der Frage der Unabhängigkeit dominiert. Seitdem ist keine Legislaturperiode zu Ende gebracht worden. Etwa alle zwei Jahre wurden die Bürger zu den Urnen gerufen und das zentrale Thema jeder Wahl war die Sezession. Erst bei dieser Wahl kamen auch Fragen der Wirtschaft und der Pandemie zur Sprache. Eine Pandemie, die sich auch auf die Wahlbeteiligung ausgewirkt hat: Mit 53 Prozent der Wähler war sie eine der niedrigsten in der Geschichte.
Im Gegensatz dazu war die Beteiligung bei der letzten Wahl im Dezember 2017 am höchsten (79 Prozent), weil die Gesellschaft sehr polarisiert war. Damals ging es um das Unabhängigkeitsreferendum, das wenige Monate zuvor stattgefunden hatte. Die Menschen, die gegen die Abspaltung waren, wollten ihrer Stimme Gehör verschaffen.
Zur Polarisierung der Gesellschaft gibt es auch einen kuriosen Aspekt, der das Wahlgesetz betrifft: Katalonien ist die einzige autonome Gemeinschaft, die über kein eigenes Wahlgesetz verfügt, was auf einen Artikel des Autonomiestatuts von 1979 zurückzuführen ist. Seitdem ist Barcelona stark gewachsen, während die Bevölkerung in den anderen drei Provinzen der autonomen Gemeinschaft abgenommen hat, mit dem Ergebnis, dass Barcelona bei der Sitzverteilung stark unterrepräsentiert ist: Die Stadt hat 16 Sitze weniger als ihr eigentlich zustehen würde. Das begünstigt die sezessionistischen Parteien, die in den überrepräsentierten Provinzen im Landesinneren mehr Unterstützung haben: Lleida zum Beispiel hat sieben Sitze mehr, als aufgrund der Bevölkerungszahl vorgesehen wären, Tarragona vier und Girona fünf mehr.
In diesem Kontext ist es für unionistische Parteien schwieriger, Sitze dazuzugewinnen, weshalb Katalonien auch nie auf eine Änderung des Wahlgesetzes gedrängt hat.
Wie interpretieren Sie die sezessionistischen Bestrebungen in einem europäischen Kontext?
Romero Caro: Ursprünglich lautete das Motto der Sezessionisten „Katalonien: Ein neues Land in Europa". Das schottische Unabhängigkeitsreferendum galt seit jeher als Vorbild: Viele fragten sich, warum es nicht möglich sei denselben Weg in Spanien zu gehen. Die Sezessionisten sahen die Unabhängigkeit als international relevante Angelegenheit und versuchten, die europäische Perspektive zu integrieren, um Verhandlungen zwischen Barcelona und Madrid zu erzwingen. Um die verurteilten sezessionistische Politiker zu verteidigen, wandten sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Nach dem Referendum 2017, als sich die Europäische Union auf die Seite der Madrider Regierung stellte, hat sich die Einstellung zur EU jedoch geändert.
Wie wird Ihrer Meinung nach die künftige katalanische Regierung aussehen?
Romero Caro: Die Zusammensetzung der neuen Regierung in Katalonien wird sich auf die nationale Politik auswirken. Um zu überleben braucht die Zentralregierung die Unterstützung von Esquerra, daher müssen die Verhandlungen zwischen Barcelona und Madrid wieder aufgenommen werden. Dies wird wahrscheinlich zu Gegenreaktionen im ganzen Land führen und radikale Parteien wie Vox, den größten Gegner der Regierungskoalition, stärken. Ich kann mir vorstellen, dass darauf eine Phase folgt, in der Esquerra und die nationale Regierung zusammenarbeiten werden, aber mit der Zeit wird Esquerra wieder die Sezession anstreben, weil sie den Druck der anderen Parteien der katalanischen Koalition zu spüren bekommen wird. Sobald die nationale Wahl wieder näher rückt, werden sie ihren Wählern zeigen müssen, dass sie etwas erreicht haben, obwohl sich in Wirklichkeit seit 2017 nichts geändert hat. Es ist schwierig zu sagen, was passieren wird: Die Sozialisten können einem Referendum nicht zustimmen, weil es nicht in der Verfassung vorgesehen ist. Man könnte der katalanischen Regierung mehr Kompetenzen einräumen, aber ich glaube nicht, dass das ausreichen würde, um die Sezessionisten zufriedenzustellen. Eine weitere Möglichkeit – ich halte sie aber nicht für sehr wahrscheinlich - wäre, dass die Sozialisten auf ihren Kandidaten verzichten und den Kandidaten von Esquerra unterstützen, sodass die eher rechten Parteien und die CUP von der Regierung ausgeschlossen werden. So hätte man in Katalonien eine exakte Nachbildung der nationalen Regierung, aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird, weil sich alle Sezessionisten verpflichtet haben, sich nicht mit den Sozialisten zu verbünden.
Abgesehen von den erlangten Sitzen, sind in Ihren Augen also nicht die Unabhängigkeitsparteien die Gewinner dieser Wahl?
Romero Caro: Ich glaube, dass sich mit dieser Wahl nicht viel für Katalonien geändert hat. Anders für die Sozialistische Partei: Sie hat die Wahl gewonnen, indem sie den ehemaligen Gesundheitsministers Salvador Illa aufgestellt hat. Dass diese Strategie aufgehen würde, kam für viele unerwartet: Illa hätte für den Umgang mit der Pandemie abgestraft werden können, er wurde aber im Gegensatz dafür belohnt. Gleich unerwartet wie seine Kandidatur war sein Comeback: Umfragen sahen die Sozialistische Partei ursprünglich an dritter Stelle, jedoch nach Illas Kandidatur stieg sie plötzlich an die erste Stelle auf. Der wahre Gewinner dieser Wahl ist für mich jedoch Regierungschef Sanchez. Die Situation in Katalonien ist unverändert, aber seine Partei hat es geschafft, die Wahl zu gewinnen, was indirekt eine Anerkennung für das Pandemiemanagement der Zentralregierung ist. Von den Unabhängigkeitsparteien hat Esquerra die meisten Stimmen erhalten, was wahrscheinlich dazu führen wird, dass sie die Zentralregierung nach diesem bestätigenden Ergebnis weiterhin unterstützen wird. Besser hätte es für die Sozialisten nicht ausgehen können.
Francisco Javier Romero Caro ist Jurist und forscht am Institut für Vergleichende Föderalismusforschung von Eurac Research in einem von der Provinz Bozen finanzierten Projekt. Zu seinen Forschungsthemen gehören die territoriale Machtverteilung in Mehrebenensystemen und die Sezessionsbewegungen in Kanada und Spanien. Er hat in Projekten zur demokratischen Qualität, zur Lebensmittelverschwendung und zur Regelung der gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in der EU mitgearbeitet.
Übersetzung: Sara Senoner